Einleitung

Einleitung

Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Umwelt sein,

so oder so,

als Jahrhundert der ökologischen Katastrophen

oder als Jahrhundert der ökologischen Wende.

(Ernst-Ulrich von Weizsäcker)

Gedächtnis und Ökologie

Schlagworte wie Seveso, Gorleben, das Waldsterben, Tschernobyl und Brent Spar lassen sich beispielhaft als Bezugspunkte im Gruppengedächtnis der Ökologiebewegung als Erinnerungsgemeinschaft benennen. Damit sind die beiden thematischen Schwerpunkte der vorliegenden Arbeit umrissen: das Gedächtnis und die Ökologie.

Die Arbeit befindet sich am Kreuzungspunkt der entsprechenden Diskurse. Sie basiert einerseits auf der (hauptsächlich von Assmann und Assmann entwickelten) Theorie des kulturellen Gedächtnisses1 als eines an konkreten Fixpunkten der Vergangenheit aufgespannten, Gruppenidentität fundierenden und sichernden Sinnkonstrukts aus “gemeinsam bewohnten Geschichten” und andererseits auf dem ökologischen Diskurs, der in der Literaturwissenschaft bislang nur marginal Beachtung findet.

Aus der Sicht einer kulturwissenschaftlichen2 ‘Chronistin’ der Ökologiebewegung und der mit letzterer zusammenhängenden bedeutsamen öffentlichkeitswirksamen Ereignisse interessiert der Nachvollzug des ökologischen Diskurses und der Umweltgeschichte anhand solcher identitätssichernden und fundierenden geteilten Erinnerungen: das ‘Bild’gedächtnis der Ökologiebewegung.

Innerliterarisch kommt, wie das der vorliegenden Arbeit vorangestellte Zitat von Gert Heidenreich andeutet, dem Thema Erinnern und Gedächtnis eine große Bedeutung bezüglich der Thematisierung der ökologischen Krise zu. Die These, daß die Tatsache der unzureichenden Gegensteuerung gegen die Naturzerstörung und mangelnden Prophylaxe auf ein kollektives Vergessen zurückzuführen sei, zieht sich wie ein roter Faden durch die Umweltliteratur der letzten fünfzehn Jahre. Das impliziert die selbstgestellte Aufgabe der umweltengagierten Literatur, im Erinnern und Erzählen – dem Vergessen entgegen – gegen den ‘Untergang’ anzuschreiben. Man könnte dies als ökologisches Sheherazade-Motiv bezeichnen: Durch das Erzählen wird Überleben gesichert, nicht (nur) das der Erzähler, sondern in diesem Falle – in dem Gedankengang schimmert das Endzeit-Denken der späten achtziger Jahre hindurch – das Überleben der Menschheit. Dadurch erscheint ein Blick auf die Verknüpfung der Diskurse des kulturellen Gedächtnisses und der ökologischen Krise anhand der erzählenden Umweltliteratur zusätzlich lohnend. Zur detaillierten ikonographischen Analyse wurden drei Texte der deutschsprachigen erzählenden Umweltliteratur herangezogen, in denen neben einem reichen Vorkommen an Erinnerungsfiguren eine Thematisierung von Erinnern, Gedächtnis und Gehirn stattfindet.

Aufbau der Arbeit

Eine Voraussetzung für eine Beschäftigung mit der deutschen Umweltliteratur bildet die Aufarbeitung des Korpus’ und des Kontextes der in Frage kommenden literarischen Texte. Die Ergebnisse werden im ersten Teil dieser Arbeit dokumentiert und mit der Darstellung des ökologischen Diskurses in Deutschland verbunden. Damit soll das Hintergrundwissen für die nachfolgenden Literaturanalysen bereitgestellt und ein Beitrag zur Arbeit am ‘Bild’gedächtnis der Ökologiebewegung geleistet werden. In der DDR wurde der ökologische Diskurs zwischen Zensur und Samisdat primär von Schriftstellern getragen, was der umweltengagierten Literatur in der DDR einen ungleich höheren Stellenwert verleiht als den Öko-Romanen in der alten Bundesrepublik3. Das macht die Nachzeichnung des DDR-Umweltdiskurses besonders interessant, die von mir nur aus der Außenperspektive geleistet werden kann.4 Eine synoptische Tabelle stellt die verschiedenen Eckpunkte des historischen Kapitels dar.

Eine solche, an den bedeutsamen Elementen des kulturellen Gedächtnisses der Ökologiebewegung orientierte Gesamtschau der Umweltgeschichte im Spiegel der Umweltliteratur in der DDR und BRD liegt bisher nicht vor. Insofern galt es, zuerst einmal den Gegenstand zu bestimmen und die ‘Tradition’ als solche skizzenhaft zu beschreiben, bevor nachfolgende Arbeiten die Brüche im Diskurs in den Blick bekommen können.

Die für die Untersuchung von Texten unter der Perspektive des ‘Bild’gedächtnisses entwickelte Methode der literarischen Ikonographie fragt nach der Verarbeitung und jeweiligen Aktualisierung von ‘Erinnerungsfiguren’ als Fixpunkten, an denen sich Erinnerung verdichtet. Sie beschreibt die Dynamik des Erinnerns in Analogie zum Modell der Mustervervollständigung neuronaler Zellverbände (Assemblies) im assoziativen Gedächtnisspeicher. Der von Assmann entlehnte Begriff der Erinnerungsfiguren wird a) auf sämtliche ‘Einlaßstellen’ der Erinnerung aller Wahrnehmungssinne und Faktizitätsgrade ausgeweitet und b) von den ‘gemeinsam bewohnten Geschichten’ einer jeweiligen Erinnerungsgemeinschaft abgegrenzt, die in den Erinnerungsfiguren assoziativ verweisend verdichtet sind und durch diese aktiviert werden (können). Eine solche Konturierung der Erinnerungsfiguren stellt das Instrumentarium für eine Lektüre bereit, welche die Texte von der Ebene des kulturellen Gedächtnisses konkreter Erinnerungsgemeinschaften her aufschließt. Über Verfahren der Intertextualität geht diese Methode insofern hinaus, als sie zusätzlich zu Verweisungsbezügen auf andere bedeutungstragende Äußerungen das soziale Gedächtnis einer spezifischen Gruppe oder Teilgruppe, Kultur und Teil-/Subkultur in den Blick bekommt. Darüber hinaus richtet sich das Interesse auf die Verarbeitung der Themen Erinnern und Gedächtnis in Umweltromanen5, was die Textauswahl der im zweiten Teil ausführlich betrachteten Umweltromane bestimmte.

Drei Texte aus dem Korpus der erzählenden Umweltliteratur deutscher AutorInnen wurden aufgrund ihrer innerliterarischen thematischen Verknüpfung von Gedächtnis und Ökologie zur detaillierten Analyse anhand der literarischen Ikonographie herangezogen: Als Beispiel für die Diskussion um das Naturverständnis in der Blütezeit der Umweltliteratur wie des Umweltdiskurses in der BRD habe ich die Novelle Moos von Klaus Modick ausgewählt. Christa Wolfs Störfall steht als repräsentatives Beispiel für die Diskussion nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, das in Mitteleuropa einen nachhaltigen Schock verursachte, und für den Umgang mit der insbesondere hinsichtlich ökologischer Themen scharfen Zensur in der DDR im Mittelpunkt der zweiten ausführlichen Betrachtung. Den dritten untersuchten Text bildet Horst Sterns Roman Klint, der 1993, also im ‘vereinten’ Deutschland, erschienen ist.

Der Schwerpunkt der Textanalysen richtet sich auf die Verweisungsbezüge der Texte auf den außerfiktionalen Kontext des literarischen und ökologischen Diskurses und die jeweilige Aktualisierung der Erinnerungsfiguren. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Welche Ereignisse und Zusammenhänge werden durch die im Text aufscheinenden oder durchscheinenden Einlaßstellen der Erinnerung aktiviert und was geschieht mit ihnen durch diese Rekontextualisierung? Welche Bildräume werden dadurch eröffnet, welche Resonanzräume angestoßen? Inwiefern strukturieren die Erinnerungsfiguren den Text? Wie ist die Art und Weise der Verweisungsbezüge zu kennzeichnen? Bleiben die Erinnerungsfiguren von der Umweltkrise unbeschädigt?

1 “Daß seit einem Jahrzehnt viel vom Gedächtnis die Rede ist, bezeugt eine ständig angewachsene und in ihrer Dichte noch immer nicht nachlassende Forschungsliteratur. Das Interesse am Gedächtnis geht dabei deutlich über die üblichen Konjunkturphasen wissenschaftlicher Mode-Themen hinaus. Die nachhaltige Faszination des Gedächtnisthemas scheint ein Indiz dafür zu sein, daß sich hier unterschiedliche Fragen und Interessen kreuzen, stimulieren und verdichten: kulturwissenschaftliche, naturwissenschaftliche und informationstechnische. Der Computer als ein simuliertes, ausgelagertes Gedächtnis bildet ebenso wie die Hirnforschung mit ihren neuen Erkenntnissen über den Auf- und Abbau neuronaler Netzwerke einen signifikanten Horizont kulturwissenschaftlicher Fragestellungen.” (Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 16)

2 Mario Klarer beschreibt den Ansatz der ‘Cultural Studies’ in der Literaturwissenschaft als Erweiterung sowohl des Gegenstandes (über literarische Texte hinaus zu sämtlichen Manifestationen von Kultur) als auch des Kulturbegriffs, zu dem als Teilströmung auch subkulturelle Erscheinungen zu zählen sind. (Vgl.: Klarer, Mario: Einführung in die neuere Literaturwissenschaft, Darmstadt 1999, S. 29)

3 “Ökologiekritische Literatur war in der DDR die einzige Institution, die, überregional wirksam, als ökologisches Gewissen, als Anwalt von Mensch und Natur, informieren, sensibilisieren und opponieren konnte. Ihre spezifischen sprachlichen Gestaltungsmittel gaben ihr einen begrenzten Handlungsraum, den andere gesellschaftliche Gruppen so nicht besaßen.” (Groth, Joachim-Rüdiger: Literatur und Politik in der DDR 1949-1989. Zusammenhänge, Werke, Dokumente, Frankfurt/M. 1994, S. 145)

4 Als Manifestation dieses Problembewußtseins möchte ich eine Auszug aus dem Gedicht Fahrt II von Sarah Kirsch zitieren, in welchem die DDR-Lyrikerin die grundsätzlich differente Semantisierung der Bilder und Worte in beiden deutschen Staaten thematisiert: “Die Fahrt wird schneller dem Rand meines Landes zu / ich komme dem Meer entgegen den Bergen oder / nur ritzendem Draht der durch Wald zieht, dahinter / sprechen die Menschen wohl meine Sprache, kennen die Klagen des Gryphius wie ich / haben die gleichen Bilder im Fernsehgerät / doch die Worte / die sie hörn die sie lesen, die gleichen Bilder / werden den meinen entgegen sein, ich weiß und seh / keinen Weg der meinen schnaufenden Zug / durch den Draht führt / ganz vorn die blaue Diesellok” (Kirsch, Sarah: Fahrt II, in: Katzenkopfpflaster. Gedichte, München 1978, S. 9)

5 “Künstlerische Erinnerung funktioniert dabei nicht als Speicher, sondern simuliert Speicher, indem sie die Prozesse von Erinnern und Vergessen thematisiert. (…) Heute ist es vor allem die Kunst, die die Krise des Gedächtnisses als ihr Thema entdeckt und neue Formen findet, in denen die Dynamik des kulturellen Erinnerns und Vergessen Gestalt annimmt.” (Aleida Assmann, Erinnerungsräume, a.a.O., S. 22)

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