Der zweite Kreis: mythische Pflanzenmetamorphosen
Wie bereits erwähnt, durchziehen die Erinnerungsfiguren, die sich auf Pflanzenmetamorphosen, also die Verwandlungen von Menschen oder Göttern in Pflanzen beziehen, die Novelle als eine Art Leitmotiv. In einer Art visionärer Schau ‘erlebt’ Ohlburg plötzlich alle mythischen und kultischen Zusammenhänge, die ihm über die Verbindungen von Menschen und Pflanzen bekannt waren. Diese Vision gleicht selber einem mythischen Erlebnis, so daß ich auf die Strukturen mythischen Denkens, sofern sie in Ohlburgs Text aufzufinden sind, nach einer genaueren Betrachtung einiger dieser Erinnerungsfiguren gesondert zu sprechen kommen werde.
Station 1: Verwandlungen von Menschen oder Göttern in Pflanzen
Der Begriff ‘Metamorphosen’ im Zusammenhang mit griechischer Mythologie ruft sofort Ovids Metamorphosen ins Gedächtnis, die das umfassendste lateinische Archiv der griechischen Mythologie darstellen. Ohlburg betont aber, daß die dort beschriebenen Vorstellungen von der möglichen Grenzüberschreitung zwischen menschlicher und pflanzlicher Gestalt weit älter sind:
Doch lange bevor ein Dichter wie Ovid von Philemon und Baucis sprach, fanden sich in der Geschichte und in den Vorstellungsweisen aller Völker, aller Kulturen, Mythen, Sagen, Erinnerungen an Pflanzenmetamorphosen. Narzissus ist die bekannteste, faszinierendste. (…) Myrrha wurde in Myrrhe verwandelt.1
Er verweist auf die globale Verbreitung der Pflanzenmythologien, spricht zunächst aber nur einige konkret an: Philemon und Baukis wurden von Zeus nach ihrem Tod als Dank für die liebevolle Gastfreundschaft, die sie Zeus und Hermes entgegenbrachten, als diese vor der Sintflut prüfen wollten, wer unter den Menschen würdig sei, die Vernichtung zu überleben, in eine Eiche und eine Linde verwandelt. Narkissos wiederum wurde von Nemesis verdammt, sich in sein schönes, von einem Teich reflektiertes Spiegelbild zu verlieben. So lag er jeden Tag am Weiher, bis er starb und von den Göttern in eine Narzisse verwandelt wurde. Myrrha hingegen liebte ihren Vater so sehr, daß sie ihn unter Leugnung ihrer Identität verführte, jedoch fliehen mußte, als er sie erkannte. In Südarabien verwandelten die Götter sie in eine Myrrhe, aus der die Göttin der Geburt dann Adonis, den Sohn ihrer inzestuösen Verbindung, barg.
In diesen Geschichten geschehen die Verwandlungen in Pflanzen als Belohnung für gastfreundliches Verhalten oder als Strafe für Selbstliebe oder Inzest. Das gängigste Motiv, die Verwandlung in Pflanzen als Flucht vor aufdringlichen Liebhabern wie z.B. bei Daphne, die sich während ihrer Verfolgung durch Apollon in einen Lorbeerbaum verwandeln ließ, oder der Nymphe Syrinx, die sich den Zudringlichkeiten Pans nur durch ihre Verwandlung in Schilf entziehen konnte, fehlt hier.
Die Hauptfunktion dieses Gangs durch die Mythologie scheint mir hier die Einführung des Leitmotivs des Übergangs aus der Menschen-/Götter- in die Pflanzenwelt zu sein.
Station 2: Mythen über die Abstammung der Götter oder Menschen von Pflanzen / mythische Stammbäume
Interessanterweise wird auch in diesem ‘mythischen’ Erinnerungskreislauf parallel zum wissenschaftshistorischen Erinnerungskreislauf die Doppeldeutigkeit des Begriffs ‘Metamorphosen’, nämlich einmal im goetheschen/ovidischen Sinne von Gestaltwandel und Verwandlung, zum anderen, wie bei Darwin, im Sinne der Frage nach der Abstammung des Menschen, betont. Ohlburg erwähnt Geschichten, in denen sowohl Götter (individuell) als auch der Mensch (als Gattung) von Bäumen abstammen.
Phoroneus war der Sohn einer Baumnymphe, und Attis entsprang einer Mandel. (…) Auch Jupiter war vormals Baum, und die ägyptische Göttin Hathor soll einem mächtigen Stamm entstiegen sein. Hesiod glaubte, der Mensch habe sich aus dem Samen der Esche entwickelt, Homer nennt die Eiche. In Indien gilt der Feigenbaum als Wiege des Menschen. Nach der nordischen Sage stammt die gesamte Menschheit von der Esche und der Ulme ab.2
Die Struktur des Stammbaums als Visualisierung der Verzweigtheit (und insofern Nicht-Linearität) der Abstammung, sei es als Individuum oder als Gattung, verweist gleichfalls auf die Darwinsche Abstammungslehre als Gegenmodell einer bis dahin vorwiegend angenommenen linearen Entwicklung.
Station 3: Mythische Welten- und Lebensbäume
Ohlburg beschreibt des weiteren mythische Vorstellungen des Weltenbaums als Weltachse (axis mundi), als Verbindung mit der Ober- und der Unterwelt. Diese Konzepte bilden gleichfalls ein weltweit verbreitetes Muster:3
Yggdrasil, die Weltesche, war Odin heilig, denn ihre Wurzeln reichten ins Universum. Und Yggdrasil verwurzelt sich mit dem Baum des Lebens der Genesis, aus dessen Wurzeln wiederum der Lebensbaum der Kabbala sprießt, der Lebensbaum, der Granatäpfel trägt, in denen man den Davidstern eingebettet sieht, wenn man die Früchte aufschneidet.4
In weiteren Ausführungen, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, erwähnt Ohlburg Mythen über die Verbundenheit von Mensch und Pflanze, und hebt die Funktion von Bäumen als Sitz der Götter und Ort von Hierophanien hervor.
Die Rekapitulierung von Pflanzenmythen greift auf die Mythen der frühen Pflanzbaukulturen5 zurück, in denen nach der Seßhaftwerdung der nomadisierenden Wildbeuter, in deren Vorstellungs- und Glaubenswelt sich die Bedeutung der Jagd und der Tiere für den Subsistenzerwerb in der Dominanz von Tiererzählungen und dem Glauben an einen Herrn oder eine Herrin der Tiere widerspiegelte, die zentrale Bedeutung der Pflanzen für die Ernährung zum Ausdruck kam. Somit verweisen diese Mythen auf eine Erinnerungsschicht jenseits der ‘Verletzung’ der ‘großen Mutter’ durch Ackerbau und Metallurgie.6
Alle diese Mythen deuten, genau wie die im vorherigen ‘Erinnerungskreislauf’ skizzierten Ergebnisse der Biologie, die mit Darwin den Menschen ‘entthronten’, demnach auf das Eingebunden-Sein in die Natur und die Partnerschaft des Menschen mit der Natur: der Mensch ist Teil der Natur, steht nicht als Manipulator außerhalb des Kontexts bzw. des Systems.
Station 4: Die Alraune und das All-Raunen
Während er den Kamin in seinem Ferienhaus heizt, gerät Ohlburg ein Wurzelstück in die Hand, das menschliche Gestalt zu haben scheint. Kurz fragt er sich, ob er eine Alraune gefunden hat, stellt dann fest, daß es sich um ein normales Stück Wurzelholz handelt. Im nächsten Moment hat er in einer Vision den Eindruck, dieses Wurzelstück sei sein Doppelgänger. Auf das Doppelgänger-Motiv werde ich weiter unten noch einmal zu sprechen kommen. Hier ist eher der Aspekt der Menschengestaltigkeit/Anthropomorphie eines Pflanzenteils von Bedeutung, den Ohlburg im Volksglauben der Alraune als Indiz für die allgemeine Naturähnlichkeit des Menschen bestätigt sieht.
Die Ähnlichkeit des Menschen mit aller Natur, wie sie im Mythos und im Märchen von der Alraune verschlüsselt liegt, greift von der Erscheinung auf die Sprache, auf das Denken über. Denn die Alraune ist das All-Raunen, die prinzipielle Gleichheit alles Seins.7
Über das Wortspiel Alraune = All-Raunen betont er noch einmal die ‘prinzipielle Gleichheit allen Seins’, die wir nun schon mehrfach als Leitmotiv der Evolutionstheorie erkennen konnten, und führt eine akustische Konnotation ein: Raunen-Rauschen. “Der Wind bringt die Zweige zum Klingen, Musikinstrumente des Allraunens.”8 Die Zweige werden zu Äolsharfen, ein Klang, der von der Gleichheit allen Seins erzählt, wird angeregt. Die Zweige werden zu Resonanzkörpern, die eine Anregung annehmen, sich von ihr in Schwingung versetzen lassen, wenn die richtige Resonanzfrequenz getroffen wurde, den Klang verstärken und die Dauer des erzeugten Tons verlängern. Ohlburg verwendet dieses Bild von Resonanzfrequenzen beispielweise auch an der Stelle, an der er berichtet, wie sein Bruder sich über die ‘Grillen’ seiner Studenten empört, die Literatur als der Wissenschaft heuristisch gleichwertige Methode anerkennen.
“Mit traumwandlerischer Sicherheit hatte er eine Saite angerissen, die in mir seit Monaten in immer stärkere Schwingungen geraten war.”9 Auf der physikalischen Ebene zwar unvergleichbar, weil auf anderen Prinzipien basierend, gleicht dieses Prinzip der Resonanz dem der im neurophysiologischen Exkurs des Kapitels über die Methode der literarischen Ikonographie dargestellten neuronalen Aktivierung von Assoziationsfeldern: ein Teil wird ‘angestoßen’, aktiviert, und das gesamte Muster ‘antwortet’.
Station 5: Ohlburgs Tod als Pflanzenmetamorphose
Auf der mythologischen Ebene, die in diesem Erinnerungskreislauf thematisiert wird, liegt es nahe, Ohlburgs Tod nicht nur als Wiedereingehen in den Kreislauf der Natur, sondern auch als Verwandlung eines Menschen in eine Pflanze, als Ohlburgs bis zur Identität reichende Annäherung an das Moos zu lesen.
Seine Liebe zum Moos weckt den Wunsch nach Vereinigung:
Ich habe mich ins Moos verliebt, und da ich spüre, wie diese Liebe erwidert wird, sehne ich den Moment herbei, ohne ihn künstlich beschleunigen zu wollen, da meine wachsende Fähigkeit, Metamorphosen einzugehen, übergehen wird, in die reine, nicht mehr deutungsbedürftige Identität. Das Leben der Pflanzen entspricht Tod und Ungeborensein der Menschen.10
In den letzten Tagen seines Lebens bemüht er sich, dem Moos entgegenzukommen, indem er seinen Körper befeuchtet, um dem Moos ein angemessenes Substrat zu bieten. Zuletzt siedelt eine Art, die “ausschließlich auf faulenden organischen Stoffen” wächst, in seinem Bart.11 Aufgefunden wurde er mit Vermoosungen “auf seinem Gesicht, besonders um Mund, Nase und Augen”12, sein Schreibtisch, der Fußboden und sein Bett waren mit Moosplacken übersät, Fenster und Türen trotz der feuchten Witterung weit offen. In seinen Aufzeichnungen spricht er von der Einfühlung in den Gegenstand des Begehrens, die die Fähigkeit zur Ähnlichkeit, Metamorphose und Identität ermöglicht. “Die Fähigkeit, ähnlich zu werden, potenziert sich mit jeder Einfühlung, wird zur Fähigkeit, Metamorphosen einzugehen, schließlich zur Fähigkeit, gleich zu werden.”13 Durch die bildhafte Anbindung an Mythen über Pflanzenmetamorphosen wird Ohlburgs Tod in kollektive, überindividuelle Deutungsmuster des kulturellen Gedächtnisses eingebunden.
Station 6: Das mythische Denken und seine Parallele zu den in diskursiver Symbolisierung verlorengegangenen Aspekten
Nicht nur über die Zitierung konkreter Mythen oder durch Anspielungen auf solche zeichnet sich ein Text als mythoshaltig aus, sondern gleichfalls durch die Verwendung bestimmter Elemente des mythischen Denkens, wie Cassirer es beschrieben hat.14 Zusammengefaßt können wir dieses Denken als durch die nicht vorgenommene Scheidung von Begriff und Sache, Traum und Realität, Subjekt und Objekt sowie der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als auch durch die Annahme einer kontagiös (Berührung in Raum und Zeit) sowie qua Ähnlichkeit übertragbaren dinglich/substanzhaft vorgestellten magischen Wirkkraft beschreiben. Die dadurch vorgestellten Beziehungen werden als kausale begriffen, die sich notwendig bedingen, so daß Zufall in dieser mythischen Form der Kausalität ausgeschlossen sind. Alle weiteren Phänomene lassen sich auf der Basis dieser Prämissen plausibel machen.
Im folgenden beschreibe ich das Vorkommen solcher Elemente in Moos.
Als Ohlburg vor dem Kaminfeuer diese menschengestalthafte Wurzel fand, legte er sie auf den Fußboden, um sie im Dämmerlicht zu betrachten. Nachdem er seine Brille weggelegt hatte, überkam ihn eine Vision, die “vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde (…) dauerte, (…) aber eine innere Dauer (…) hatte (…), die einer anderen Zeitrechnung angehörte”, in der er in der Wurzel einen Doppelgänger seiner selbst sah: “Augenblicklich sah ich (…) mich vor mir selbst liegen mit gespreizten Beinen, sah mich jedoch auch über mich gebeugt sitzen.”15
Da der Raum im mythischen Denken als Strukturraum konzipiert wird, ist der Zwang zur eindeutigen Lokalisierung aufgehoben: ein menschlicher, tierischer oder eben pflanzlicher ‘Doppelgänger’ wird möglich, der qua ‘participation’, also mythischer Teilhabe, an der Persönlichkeit des Individuums teilhat. In einer Vision findet eine Zeitdehnung der empfundenen Zeit im Kontrast zur real verstreichenden Zeit statt.
Das Erlebnis, in welchem Ohlburg sich die Pflanzenmythologien vergegenwärtigt, wird gleichfalls als eine Art visionärer Schau beschrieben: “Im Rhythmus der Figuren, die sich dort bildeten, berührte mich plötzlich wie ein Flügelschlag eine Anschauung (…).”16 In einer Symphonie simultaner Eindrücke ‘offenbarten’ sich ihm alle mit Pflanzen zusammenhängenden Mythen und Kulte, von denen er je gehört oder gelesen hatte:
Und alles, was ich in diesen Augenblicken über das Geheimnis der Bäume, der Pflanzen gewußt hatte, fühlte und erfuhr ich, aber nicht in dieser armen Aufzählung des und und und, sondern Alles war ineinander verschränkt, miteinander verzweigt und verästelt, gleichzeitig und endlos, heiter und leicht.17
Die lineare Ordnung der Wahrnehmung ist zugunsten einer Simultanität und Synchronizität aufgehoben, die begrifflich nicht faßbar und linear nicht vermittelbar ist. Diese ‘Offenbarung’ hat nichts mit Wissen, sondern mit Gefühlen und Erfahrungen zu tun und vermittelt ihm neben den Inhalten der Pflanzenmythologien auch eine Impression der Verflochtenheit der Konzepte, der Verschränkung alles Seins; wiederum: der Einheit der Natur. Dieses mythische Erleben der Vision, der Anschauung anstelle begrifflicher, linearer Reihung klingt an Goethes Konzept der Anschauung an, wird aber nicht mit einer solchen gleichgesetzt, sondern im Zwischenraum zwischen Anschauung und Begriff lokalisiert. Ohlburg beschreibt sie als “die schwerelosen Niemands- oder besser gesagt Alles-Länder zwischen unmittelbarer, sinnlicher Anschauung und geistiger, reflektierter Wirklichkeit.”18
Diese Vision war daraus entstanden, daß er den Rauch seiner Pfeife zu stark inhaliert hatte und dann mit einem “kreisenden” Schwindelgefühl den Eindruck hatte, “als zögen die Fichten ihrerseits den mit meinem Atem durchsetzten Rauch zu sich her.”19 Nicht nur an dieser Stelle beschreibt Ohlburg so etwas wie eine Kommunikation mit der Natur, besser: etwas, was ihm wie eine solche erscheint. Wenn er den Kachelofen heizt, empfindet er die Wärme der brennenden Scheite als “deutliche Signale einer sprachlosen Verständigung”20. Zu Beginn seines Aufenthalts kann er die ‘Sprache’ der Kiefer noch nicht verstehen21, später ist eine Kommunikation möglich: “Ich blicke die Kiefer an oder das Moos, lade die Pflanze auf, und wenn ich sie mit mir aufgeladen habe, spiegelt sie mich wieder und ich sie.”22 Auch mit dem Moos klappt die Verständigung zuerst nicht so recht:
Daß sich zwischen dem Moos und mir eine Kommunikation aufbaut, daß ich nicht nur Betrachter bin, sondern auch betrachtet werde, spüre ich deutlich, auch wenn ich noch nicht die Sprache verstehe, in der diese Kommunikation vonstatten geht.23
Gegen Ende der Aufzeichnung gipfeln diese Kommunikation und die versuchte Annäherung an die Pflanzen, wie wir gesehen haben, im Einander-ähnlich-Werden, dem Gestaltwandel in der Metamorphose und der Wesenseinheit in der Identität, sprich: in Ohlburgs Tod. In der letzten Phase gelingt ihm die Kommunikation dann nicht nur mit organischen Wesen, sondern auch anorganischer Materie: “Im Regen lege ich mein Ohr an die Erde und lausche dem lauter werdenden Ruf. Ich blicke die Tropfen an und sie blicken zurück.”24
Eine solche Idee einer Kommunikation mit der Natur ist nicht nur ein dem mythischen Denken inhärentes Konzept der Teilhabe als realer Einheit und der Aufhebung der scharfen Übergänge zwischen Ich und umgebender Welt, der Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt, sondern auch ein romantisches Konzept eines naturphilosophischen oder poetischen Dialogs mit der Natur.
Wenn Ohlburg schmerzhafte Empfindungen und Körperreaktionen nicht eindeutig zuordnen kann, ob es seine eigenen oder die des Mooses resp. seines Bruders, als beide noch Kinder waren, sind (“den Schmerz, von dem ich nicht wußte, ob es der meine oder der des Mooses war”25 / “Oder ist es Franz, der seinen Arm im Wasser des Baggersees kühlt?”26), kann auch das als mythische Aufhebung der Identität im Sinne der fließenden Übergänge zwischen Ich und Außenwelt gedeutet werden. Ohlburg beschreibt diesen Vorgang als Aufhebung der Scheidungen: “Scheidungen werden unmöglich und sinnlos. Das Ich greift auf das Alles über. Das Alles beginnt das Ich zu übermoosen.”27 Der Refrain heißt: grundsätzliche Eingebundenheit des Menschen in die Natur, hier ausgedrückt anhand mythischer Strukturen.
Gleichsam ein Charakteristikum des mythischen Denkens ist die Möglichkeit zur Metamorphose, da Gestalt nur als Akzidens, als Eigenschaft begriffen wird und somit wandelbar ist.
Auch die Trennung zwischen Traum und Wirklichkeit verliert für Ohlburg an Bedeutung, wie er seinem Bruder in einem Gespräch mitteilt: “Für mich fließen Träume und Wachsein immer stärker ineinander. Ich weiß nicht mehr, wo die Träume beginnen, wo sie enden. Ich will es auch gar nicht wissen.”28
Wie in dem Abschnitt über den Herzklee-Blutkreislauftraum bereits angedeutet, wurde Herzklee in der Volksmedizin wie in der Homöopathie als Medikament bei Herzbeschwerden verabreicht. Die Wirksamkeit wurde aus der Ähnlichkeit in der Gestalt abgeleitet, was in mythischer Kausalität durch eben die substanzartige Wirkkraft erklärbar wäre, die Dingen mit ähnlicher Gestalt innewohnt bzw. sich in dieser Ähnlichkeit manifestiert. Die Suche nach Ähnlichkeit und “verborgene(n) Korrespondenzen”29, die Einbeziehung von Analogien und Entsprechungen als epistemologischen Methoden richtet sich, wie oben gezeigt, auf die Elemente, die neben der sensorischen Wahrnehmung aus dem Erkenntnisraum der Wissenschaften ausgeklammert wurden und um deren Wiedereinbeziehung Naturphilosophie sich bemühte.
Im mythischen Denken wird die Zeit als zirkulär und zyklisch erfahren, womit auch in diesem Erinnerungskreislauf neben den Mythen als Erinnerungsfiguren des kulturellen Gedächtnisses über die Struktur der Zeiterfahrung im mythischen Denken die Kreisfigur präsent ist.
4 Moos, S. 70f. Ohlburg/Modick verwendet den Begriff ‘Yggdrasil’, der im Gegensatz zum rechtsextrem belasteten Synonym ‘Irminsul’ neutral ist. (Vgl. Kratz, Peter: Die Götter des New Age. Im Schnittpunkt von ‘Neuem Denken’, Faschismus und Romantik, Berlin 1994, S. 16, 22)
5 Pflanzbau unterscheidet sich vom Ackerbau durch Brandrodung, Knollenbau und Nutzung der Baumfrüchte, Großviehzucht, Pflug, Düngung und vermutlich auch durch den Anbau von Körnerfrüchten.
6 Historisch sind die meisten der von Olburg zitierten Mythen aus der Zeit der griechischen Stadtstaaten überliefert worden, darauf beziehe ich mich hier aber nicht: Ausgehend von der These, daß der Mythenbestand einer Gesellschaft die für den Subsistenzerwerb notwendigen Bereiche adäquat widerspiegelt, verweist die größere Bedeutung von Pflanzen, die noch keine eigentlichen Kulturpflanzen sind, auf eben jenen Typus der schriftlosen Pflanzbauern.