Moos 4

Der dritte Kreis: die biographische Erinnerung

Die verschiedenen Erinnerungskreisläufe thematisieren drei Typen von Erinnerung: die Erinnerung an Wissen, also erworbene kognitive Inhalte, wie zum Beispiel der Geschichte und Vorgeschichte der Biologie, die Erinnerung an erzählte Geschichten, in diesem Falle von Mythen, und die Erinnerung an Erfahrungen, also diejenigen Inhalte, die selbst erlebt und wahrgenommen wurden. Dabei bildet die Erfahrung die unmittelbarste, der Nachvollzug erzählter Geschichten eine mittelbare und (theoretisches) Wissen die abstrakteste Form von Gedächtnisinhalten. Trotzdem können sich diese verschiedenen Ebenen inhaltlich entsprechen: “Ein Kreis schließt sich, Anfänge rücken ans Ende. Wissen schließt sich mit Erfahrungen kurz, Erfahrung mit Erinnerung, Erinnerung mit erzählten Geschichten.”1

Im Grunde sind es also zwei Themen, von denen dieser dritte Kreislauf handelt: Die gedankliche Annäherung des Greises Ohlburg an das Kind, das er gewesen, die Rückkehr, aber auf anderem Niveau, zu einer Naturnähe, die ihm als Kind eigen war, die er als Erwachsener jedoch verlor. Auf dieser Ebene erzählt der dritte Kreislauf die Geschichte von der Entfernung von der Natur und der Wiederannäherung an die Natur. Der zweite Aspekt wäre die Zusammenführung von Wissen, erzählten Geschichten und Erfahrungen.

Zunächst betrachte ich die biographischen Erinnerungen Ohlburgs. Da es sich bei diesen nicht um Elemente des kulturellen Gedächtnisses handelt, über deren ikonographische Konnotationen zu berichten wäre, richte ich die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, wie diese Erinnerung jeweils angeregt wird.

Es gibt bestimmte ‘Erinnerungsfiguren’ als Einlaßstellen der Erinnerung, die auf einer direkten Sinneswahrnehmung fußen. Der Gang der Erzählung gerät dann unvermittelt in ‘Treibsand’, wird sanft nach unten gezogen, wie Ohlburgs Tinte, die in das Papier sickert: “(Das Papier, S.J.) ist sehr weich und großporig. Die Tinte zieht leise hinein. Es ist, als ob ich mitzöge.”2 Diese Bewegung findet ihre Entsprechung in dem von Ohlburg seinen Aufzeichnungen vorangestellten Zitat von Annette von Droste-Hülshoff: “Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch, Mich leise in der Erde Poren ziehen.”3; sie ist also auch gleichzeitig die Bewegung von Ohlburgs Tod.

Doch möchte ich diese Dynamik des ‘Erinnerungstreibsandes’ nicht überbetonen. Wichtiger ist mir hier der Blick auf die Übergänge zwischen biographischer Gegenwart und Vergangenheit, ohne mich allzu lange bei den einzelnen Erinnerungen aufzuhalten.

Station 1: Die ‘Schrecken’ des Haareschneidens

Die erste Einlaßstelle bildet ein akustisches Signal. Ohlburgs Bruder hatte veranlaßt, daß Handwerker die Dachziegel des Ferienhauses vom Moosbewuchs reinigen. Doch stört Ohlburg das “Scharren, Fegen, Kratzen”4 auf dem Dach derart stark, daß er nicht mehr am Schreibtisch weiterarbeiten kann und in Schweiß ausbricht. Er fuhr sich mit der Hand immer “wieder durch die Haare, wodurch das “Kratzen zu einem metallischen Klappern zu werden schien”, und eine Erinnerung an die “Tränenflut” des kleinen Lukas Ohlburg bei seinem ersten Friseurbesuch kurz vor seinem ersten Schultag steigt in ihm auf:

Ich hatte nicht gewußt, was mich erwartete, aber wie (sic!) das Klappern der Schere sich meinen Ohren nähert, überfällt mich die hemmungslose Angst, die im endlosen Tränenstrom den ohnmächtigen Versuch veranstaltet, unter den flinken Händen des Barbiers zu zerfließen, mich zerfließen zu lassen, um den Fluß meiner Haare zu retten.5

Die Tränen versiegten erst durch den Trost seiner Mutter, in deren Gesten dennoch eine “sprachlose Trauer”6 lag.

In dieser ersten Erinnerungsfigur der biographischen Erinnerung werden wie in einer Ouvertüre die Grundthemen angespielt: die bisher ungeschnittenen Haare symbolisieren ungebändigte, unbezähmte Natur, aus der Sicht des Vaters eben Wildnis, aus der Sicht des Kindes und offensichtlich auch der Mutter einfach Natürlichkeit. Die Tränen wie die Haare werden als Fluß und Strom, also in Wassermetaphorik gefaßt. Wasser und Feuchtigkeit sind für Ohlburg mit Liebe assoziiert, nicht nur der Liebe zum Moos, dem er in seinen letzten Lebenstagen durch das Anfeuchten des Körpers und des Hauses eine Besiedelungsmöglichkeit bieten möchte, sondern auch durch die Erinnerungen an frühere Liebeserlebnisse, die stets auf gewisse Weise mit Wasser verbunden sind. Beides jedoch, das Wasser wie die Natur, war für den Vater angstbesetzt und daher zu bändigen.7

Station 2: Die Vernichtung der Moose und die Angst vor der ‘Wildnis’

Die zweite Einlaßstelle bildet ein kinästhetisches Signal: Ohlburg setzt sich des Morgens im Halbschlaf, in dem die “Zweifel des gänzlich wachen, naturwissenschaftlichen Bewußtseins (…) noch dämmrig (…) in die Wirklichkeit der Träume (…) eingesponnen waren, an den Schreibtisch. In der

Bewegung der Hand (lag) (…) ein Erinnern an ganz ferne frühe Tage, (…) als hätten die Muskeln meiner Hand und die hektische Fahrigkeit des stenographischen Schriftbilds diese archiviert (…).8

Die auftauchende Erinnerung ist die an das alljährliche Großreinemachen nach Ankunft der Familie im Ferienhaus, ein vom Vater befehligter Kampfeinsatz gegen den ‘Wildwuchs’ der Natur, in dem den ‘Männern’, sprich Ohlburg und seinem Bruder, die Beseitigung der Moose und Gräser aus den Sandfugen zwischen den Ziegeln auf der Terrasse und dem Weg mittels Drahtbürsten oblag.

Die Bewegung seiner Hand im Schreibvorgang läßt Ohlburg den Gedanken an die Drahtbürsten und das Schreiben mit einem Bleistift, der das Papier letztendlich gleichfalls zerkratzt, miteinander verknüpfen. Seine Konsequenz: er kauft sich Tinte, die beim Schreiben, wie bereits beschrieben, langsam durch die Poren ins Papier sickert. Noch eine weitere Verknüpfung ist in dieser Drahtbürsten-Assoziation enthalten: die der Gleichsetzung des naturzerstörenden Moosauskratzens mit der begrifflichen, diskursiven Terminologie als Ausdruck derselben Angst vor ‘ungezähmter’, nicht domestizierter, nämlich ‘wilder’ Natur.

Heute weiß ich, daß mein Vater, der jeden Vogel kannte, der jeden Baum mit seinem lateinischen Namen belegen konnte, mit diesen Begriffen seine Angst vor der Natur bannen, die Aufregung bezähmen wollte, die ihn ansprang, wenn das Moos aus den Fugen quoll. Begriffe waren die geistigen Drahtbürsten meines Vaters.9

Doch nicht nur Angst vor der Natur, auch Ekel vor dem Verfall und dem Feuchten, Unkontrollierbaren, mischten sich in das väterliche Naturverhältnis:

Sein Drang, die Natur unter Kontrolle zu bringen, nahm in Jahreszeiten wie dieser manisch-paranoide Züge an. Wenn sich das Laub ums Haus häufte, sich in nassen Klumpen mischte und zu zerfallen begann, kam die ‘Stunde der Wahrheit’ für die harten Reisigbesen, die den ‘Glibber’, ‘die Murre’, ‘den Schlamm’, ‘das ganze Laubgekröse’ von Fundament, Sockel und Gebälk fernzuhalten hatten. – Feuchtigkeit, stöhnte mein Vater, Feuchtigkeit ist tückisch. Feuchtigkeit kriecht. Um seinen abgrundtiefen Ekel vor allem humusbildenden Zerfall zu verstehen, muß man gehört haben, mit welchem Widerwillen er dies ‘Feuchtigkeit kriecht’ von seinen Lippen tropfen ließ.10

Für Ohlburgs Vater war die Welt streng geordnet, menschlicher Lebensraum war von Natur deutlich geschieden: “Alles an seinem Platz. Dort, und er hatte in den Wald gedeutet, dort ist das Moos. Und hier, und er hatte auf die Ziegel gezeigt, hier stehen wir. Muß alles seine Ordnung haben.”11 Was nicht bedeutete, daß er den das Haus umgebenden Wald völlig sich selbst überlassen hätte: als Zone des Übergangs zwischen Garten und ‘Wildnis’ gestaltete Ohlburgs Vater einen Landschaftsgarten, einen Park, der Natur als natürlich wirkende Kunst inszeniert. Aus diesem Bereich “verbannte” er alles, was “seiner Ansicht nach den natürlichen Eindruck einer Buschheide verwässerte”, eliminierte jedes in diesem Verdacht stehenden Grün als “artfremde(n) Eindringling” 12.

Station 3: Gegen das wilde Wuchern des Bartes

Die dritte Einlaßstelle bildet ein visuelles Signal: Ohlburg schneidet sich beim Rasieren, was er nach einigem Ärger über sein altersbedingtes Zittern der Hände gleichzeitig als Protest seines Körpers gegen die Eingriffe in dessen natürliches Wachstum versteht:

Aber diese höhnische Selbsteinsicht in die Hilflosigkeit des Alterns verschränkte sich zugleich mit dem Gedanken, daß meine Physis Protest angemeldet habe gegen einen widernatürlichen Eingriff in ihr Wachstum; (…).13

Aus dem Spiegelbild des weißen Bartwuchses entsteht vor seinem inneren Auge “ein blonder Flaum auf sonnenbrauner Haut”, was ihn in seine Schülerzeiten zurückversetzt.

Aus dem Bild des verkrusteten Blutes im Bart wächst dann eine weitere Erinnerung, schiebt sich vor das erste Bild. Diese Erinnerung führt ihn in ein Hotelzimmer in Chelsea Anfang 1934, als er und sein Bruder aus Deutschland geflohen waren. Völlig “übernächtigt, dreckig” kommen die beiden an.

Ich sehe in den Spiegel, mir ekelt vor meinem Fünftage-Bart. Noch bevor ich todmüde aufs Bett falle, rasiere ich mich, heftig, unkonzentriert, schneide mich. Man muß dagegen angehen, man darf das nicht wachsen lassen. Es überwuchert uns, verschlingt uns.14

Er ist ‘erwachsen’, die Angst vor der unkontrollierten Natur hat auch ihn erfaßt. “Und so habe ich, lieber Sohn, guter Junge, die Angst meines Vaters ein weiteres Leben lang am Leben erhalten.”15 Als Kind war er davon frei, als Greis, kann er der Natur wiederum angstfrei begegnen: ein weiterer Kreis, der sich schließt. “Das Leben vollzieht in seinem Zirkelschlag eine ähnliche Scheinregression wie die Evolution mit den Moosen.”16 Der Greis Ohlburg versucht, das Naturverständnis des Kindes wiederzuerlangen, wenn auch ohne dessen Naivität: “Das Kind weiß, was an und in der Natur ist. Es kann sie noch als Ganzes fassen, (…).”17 Und läßt sich einen Bart stehen, als sichtbar wachsende Natur an ihm selbst.

Station 4: Algen, Moose und die Liebe

Auch die vierte Einlaßstelle bildet ein visuelles Signal. Als Konsequenz aus seiner Assoziation der Bleistift-Stenographie mit den Drahtbürsten schreibt er nicht nur mit Tinte, sondern auch wieder in alphabetischer Schrift, “die selbst Bilder hervorbringt”. Genau diese Bildhaftigkeit der Schrift ist es, die die nächste Erinnerung evoziert:

Denn siehe, das doppelte O in Moos, es spiegelt meine Brille, und wie ich nun schärfer hineinsehe, indem ich nicht mehr exakt fixiere, da ist es das Binokularmikroskop im botanischen Institut.18

Die Erinnerung führt ihn in seine Studentenzeit, in ein Seminar über die Entstehung des Lebens Moose, in dem er das Mikroskop mit der schottischen Gaststudentin Marjorie teilt und Professor Mandelbaum über die “heftige Attraktion, die eine Zelle plötzlich zu einer anderen hinzieht”,19 doziert, was in der Verschachtelung der beiden Erzählstränge des Dozentenvortrags einerseits und der privaten Kommunikation am Mikroskop (“Viertel nach Fünf, Englischer Garten”20) zu einer engen thematischen Verbindung von Moosen, Liebe und Feuchtigkeit führt.

Station 5: Versuchte Naturbeherrschung

Die fünfte Einlaßstelle bildet ein haptisches Signal. Auf der Suche nach Leuchtmoosen gerät Ohlburg in einen Betonsilo. Um die Moose besser betrachten zu können, bückt er sich und berührt dabei kurz mit den Knien den Boden. In dieser Berührung liegt die Erinnerung an einen Herbsttag seiner Jugend, als er mit seinem Bruder in ebendiesem Silo den Chemie-Baukasten ausprobierte und als die beiden Jungen lange auf dem Betonfußboden knieten. Es kam zu einem Unglück, bei dem Franz’ Arm und Lukas’ Augen verletzt wurden. Seitdem war Lukas Brillenträger, bekam Kopfschmerzen, wenn er zu lange las, und manchmal ein Flimmern vor den Augen. “Hat das Moos den Schrecken über all die Jahre, sechzig müssen es wohl sein, bewahrt? Unberührt bewahrt? (…) Eine (sic!) Echo der Bilder? Eine Bildererinnerung?”21 Dieses Bilderecho-Phänomen wird mit der Funktionsweise des Leuchtmooses in Verbindung gebracht, das die Überschüsse des tagsüber aufgenommenen Lichts nachts als schwaches Leuchten wieder abgibt, als “optisches Echo”. In Ohlburg hervorgerufen wurde die Erinnerung an den Chemiekasten jedoch nur mittelbar durch das Moos: die Berührung der Knie auf dem Beton evozierte als haptischer Eindruck, eben nicht als visueller, die Erinnerungsfigur.

Hier wird die Angst vor der Natur umgeleitet ins Experiment, mit dem man ihre Funktionsweise zu verstehen versucht. Das andere Gesicht der Natur kommt hier ins Bild: nicht nur die Natur als wuchernde Wildnis, als ‘grüne Hölle’, sondern die Natur der Naturwissenschaft, die in den Anfängen gerade keine Wissenschaft vom Lebendigen ist, sondern die ‘Gesetze’ an der anorganischen Materie untersucht.

Station 6: Erinnerungen, Liebe im Moos, Liebe im Wasser

Die sechste Einlaßstelle bildet ein synästhetisches, also ein aus mehreren Sinneswahrnehmungen, in diesem Falle aus der akustischen, visuellen, olfaktorischen und haptischen Wahrnehmung, zusammengesetztes Signal.

Dieser Ruf, dem ich lausche, dieser Blick, den ich vermisse, sie strömen aus seinen wulstigen Kissen, aus seinem Geruch, wenn ich es zwischen den Fingern zerreibe, aus seinem Streicheln, wenn ich meinen Kopf hineinwinde.22

Diese Wahrnehmungen sind gleichfalls mit den begrifflichen Assoziationen des Gegenstandes verbunden: es geht um Frauenhaar-Moos. Bevor die eigentliche Erinnerung den Erzählfluß aus der Gegenwart in die Vergangenheit zieht, reflektiert Ohlburg noch einmal den Zusammenhang der Fortpflanzung der Moose als Erinnerung an seine Herkunft von Algen, den Zusammenhang von Moosen, Fortpflanzung, Erinnern mit dem Wasser – und dann dient das Wasser als Einlaßstelle für die Erinnerung, indem eine Überblendung stattfindet von der Reflexion zur konkreten Szene, als er mit der schottischen Gaststudentin am Bach sitzt, die Füße im Wasser.

Denn die Fortpflanzung durchs Wasser ist die Erinnerung des Mooses an seine Herkunft von Algen, aus Ozeanen des Karbon. Und diese Erinnerung wird immer und immer wieder wachgerufen durch das Wasser, nur durch das Wasser. Das Wasser des Baches ist eiskalt. Unsere Füße sind rotgeschwollen, blasig vom Weg. Sie baumeln in der Strömung.23

Die erinnerte Liebesszene findet jedoch nicht im eiskalten Wasser statt, sondern im Moos. Und die Erinnerung führt ihn weiter, ins Seminar mit Marjorie, ihren Abschied, als sie Nazi-Deutschland verläßt (“The highlands are green. Munich turns brown”24), und ihr kurzes Wiedersehen nach Jahren, als sie verheiratet war, und Mutter von drei Kindern. Und er erinnert sich weiter, an einem warmen Sommertag, als die Familie Ohlburg im Wald picknickte und ‘das Mädchen’, eine Hausangestellte, mit dem zwölfjährigen Lukas im und am Baggersee Zärtlichkeiten tauschte. Die Beschreibung ihrer Schamhaare wird durchsetzt von der Beschreibung von Moosen.

Und im Zusammenhang mit dem Frauenhaar-Moos reflektiert Ohlburg über die Funktionsweise des Erinnerns:

Das Frauenhaar-Moos ist, wie alle (…) Moospflanzen, ein Schlüssel, ein Modell, um zurückzufinden ins Erinnern, ins volle Wissen. Denn sie sind wurzellos. (…) Und nur durch Wasser pflanzen sich die Moose fort. So ist der gesamte Körper des Mooses nicht nur ein einziges Sexualorgan, sondern alle Körperfunktionen des Mooses verfügen über die endlose Erinnerungsfähigkeit.25

Hier geschieht eine wenn nicht Anthropomorphisierung, so doch eine Theriomorphisierung des Mooses: Indem die Pflanze als ‘Körper’ beschrieben wird, hat auch hier eine metaphorische Metamorphose der Pflanze in einen Organismus stattgefunden.26

Doch geht es Ohlburg hier eher um eine bestimmte Funktion der Erinnerung: Das Modell für das Erinnern bildet hier die Anerkennung der Erinnerungsfähigkeit aller Körperfunktionen, als Rückgewinnung des Körpergedächtnisses. Dieses geht lt. Ohlburg mit einem Einblick in die Funktionsweise des Gehirns einher.

Die Erinnerung (…) verbirgt sich ja nur zu einem kleinen Teil in unseren Hirnen. (…) Aber die Erinnerungen und das Wissen stecken in jedem Teil unserer Körper. Weil wir nicht mehr wissen, wie wir mit unseren Hirnen erinnern können, wissen wir erst recht nicht mehr, daß wir mit unseren Körpern erinnern können.27

Die erste Einlaßstelle der Erinnerung bildete das Geräusch der Dachdecker, die nächste die Bewegung der schreibenden Hand, dann gab es zwei bildhafte Übergänge: der blutige Bart und das Schriftbild des Wortes ‘Moos’, dann die Berührung des Betonbodens mit den Knieen und zuletzt eine Kombination vieler Sinneswahrnehmungen inclusive des Begriffs ‘Frauenhaar-Moos’ (“Seltsame Rückfälle ins Schattenreich der Terminologie!”28) und die davon ausgehende gedankliche Reflexion, an die sich dann über den Begriff ‘Wasser’ die Überblendung in die Vergangenheit anschließt.

Ich erlaube mir eine Analogie: so wie die Erinnerung der Moose durch das Wasser ‘geweckt’ wird, ereignet sich die Erinnerung Ohlburgs anhand von sinnlicher Wahrnehmung, die dann gleichsam eine konkrete Erinnerung hervorruft.

Obwohl sie holz- und wurzellos sind, haben Moose eine erstaunliche Fähigkeit, Trockenheit während langer Dürreperioden zu überstehen, um bei erneuter Benetzung unerwartet wieder aufzuleben. Ein banales Beispiel, das lernt jedes Erstsemester. Aber wir wissen es erst, wenn wir die Information erlebt, vielleicht sogar erst, wenn wir sie gelebt haben.29

Diese Wahrnehmung, die die Erinnerung gleichsam ‘anknipst’, aktiviert, erregt, ist nicht auf visuelle Wahrnehmung beschränkt, sondern bezieht sich auf alle Sinne. Die Erinnerung ist umso deutlicher, je mehr Sinne (inclusive diskursivem Denken) an ihrer Erregung beteiligt waren, je komplexer also das Eingangssignal ist. Die Evokation der ausführlichsten und genauesten, lebendigsten Erinnerung geschieht durch die Einbeziehung aller Erkenntnisapparate, eben auch des begrifflichen Denkens und der Reflexion. Die Rückgewinnung des Körpergedächtnisses, von der Ohlburg spricht, veranschaulicht er parallel dazu in den verschiedenen Einlaßstellen der Erinnerung.

Diese Wiederausweitung der Sinneswahrnehmung entspricht auch der von goethescher Naturphilosophie postulierten Vereinigung von Wissenschaft und Kunst, entspricht einer Gegenbewegung gegen die im ersten Kreislauf anhand von Foucault beschriebene Verengung der wissenschaftlich anerkannten Sinneswahrnehmungen auf bestimmte Aspekte des visuellen Sinnes.

Als Gegensteuerung zur rezenten Überbetonung des visuellen Sinnes wäre eine Bewegung hin zur Synästhesie zu begrüßen, wie sie eben nicht nur die letzte Einlaßstelle der Erinnerung nahelegt, sondern auch der Schluß von Ohlburgs Aufzeichnungen: “Aber das Leuchten, das Schwärmen, der Geruch voll schwerem Blau, das alles ist ein Medium, in dem ich weiter reisen kann.”30

1 Moos, S. 19f.

2 Moos, S. 117

3 Moos, S. 11

4 Moos, S. 26

5 Moos, S. 27

6 Moos, S. 28

7 Vgl. zu der Angst von Vätern vor dem feuchten Element: Theweleit, Klaus: Männerphantasien 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Basel / Frankfurt/M. 1977

8 Moos, S. 30

9 Moos, S. 35

10 Moos, S. 55f.

11 Moos, S. 32

12 Moos, S. 57. Zum Gartenbau und dem Übergang vom barocken französischen zum romantischen englischen Garten als begehbare Landschaftsmalerei vgl. besonders: Böhme, Gernot: Die Bedeutung des englischen Gartens und seiner Theorie für die Entwicklung einer ökologischen Naturästhetik, in: ders.: Für eine ökologische Naturästhetik, a.a.O., S. 79-95

13 Moos, S. 40

14 Moos, S. 44

15 Moos, S. 35

16 Moos, S. 97

17 Moos, S. 89

18 Moos, S. 48

19 Moos, S. 50

20 Moos, S. 50

21 Moos, S. 54

22 Moos, S. 106

23 Moos, S. 107

24 Moos, S. 109

25 Moos, S. 106f.

26 Diesen Hinweis verdanke ich Alexandra Rassidakis.

27 Moos, S. 106

28 Moos, S. 106

29 Moos, S. 29

30 Moos, S. 124

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