Die Mechanismen des Erinnerns
Im Eingangsmotto stellte sich die Frage, ob nicht möglicherweise sogar Romane die Funktionsweise des Erinnerns ergiebig veranschaulichen könnten, die ich nun zusammenfassend zu beantworten versuche.
Die Dynamik des Erinnerns, die ich im Kapitel über die Methode der literarischen Ikonographie beschrieben habe, stimmt mit den Ergebnissen aus dem dritten Kreislauf überein. Bestimmte Sinneswahrnehmungen aktivieren als Verweise auf Erinnerungsfiguren die in diesen enthaltenen Geschichten, die fundierend und identitätsbildend für die Erinnerungsgemeinschaft oder das Individuum waren. Je mehr Sinne an diesem Verweisungsprozeß beteiligt sind, je mehr Erinnerungsfiguren an eine Erinnerung geknüpft sind, umso fester ist diese Erinnerung verankert, desto sicherer kann sie aufgerufen werden.
Darüber hinaus funktioniert Lernen in Kreisläufen: Je häufiger ein Neuronenverband aktiviert wird, umso stärker verändern sich die Synapsengewichte. Wenn also die Zusammenhänge immer wieder in Schleifen durchfahren werden, werden die damit verknüpften Inhalte umso sicherer gelernt. Also enthält auch der dritte Kreislauf eine Betonung der Kreisläufe, nämlich als Mechanismus des Erinnerns.
Die Frage des Zusammenschlusses, des Sich-Kurzschließens von Wissen mit Erfahrung und erzählten Geschichten in einem Kreislauf, in welchem Anfänge ans Ende rücken, läßt sich von dieser Stelle aus leicht beantworten: der gesamte Text Moos bildet, wie meine Analyse gezeigt hat, die Verquickung von Wissen(-schaft), Erfahrung (Ohlburgs biographischer Erinnerung) und erzählten Geschichten (den mythischen Überlieferungen). Auch die Erinnerungen des wissenschaftshistorischen Kreislaufes und die privaten Erinnerungen Ohlburgs sind nichtsdestotrotz mit erinnerten Geschichten verknüpft, so daß sich das Erzählen von Geschichten als Hauptmoment des Erinnerns ergibt.
Die Novelle Moos evoziert naturphilosophisches Denken der Romantik. Mit den Stichworten der Ästhetisierung der Wissenschaft im Sinne einer Einbeziehung der sinnlichen Wahrnehmung in den Wissenschaftsraum bis hin zur Frage einer Kongruenz von Poesie/Kunst und Wissenschaft, dem Denken in Analogien und der Suche nach einer Sprache der Natur wird das Programm romantischer Naturphilosophie deutlich umrissen.
Mit Goethe wurde die Erinnerung an einen Punkt vor der Bifurkation von empirischer Naturwissenschaft und spekulativer Naturphilosophie zurückgeführt, um an die in dieser Verengung des wissenschaftlichen Diskurses auf eine der beiden Verzweigungen herausgefallenen Anteile (Denken in Ähnlichkeiten/Analogien, sinnliche Wahrnehmung außer einer farbirrelevanten visuellen) zu erinnern. Darüber hinaus versuchte Goethe mit seinem Konzept der Metamorphosen einer Wissenschaft vom Lebendigen den Weg zu bereiten, indem er das Werden und die ‘Unteilbarkeit’ lebendiger Organismen betonte. Dieses ganze romantisch inspirierte und die Romantik inspirierende Programm einer Naturphilosophie kann gleichsam als Versuch der Vereinigung von Wissenschaft und Kunst in einer Wahrnehmungswissenschaft gelesen werden, dem Ohlburgs Text auch in seiner Form gerecht zu werden versucht.
Mit Darwin wurde der Blick auf die Abstammung des Menschen von anderen Organismen gelenkt, was zur Anerkennung des Eingebundenseins des Menschen in die restliche Fauna und Flora führte. Der seiner Sonderstellung (‘Krone der Schöpfung’) beraubte Mensch wird dadurch epistemologisch Teil der Natur. (Goethe hatte bereits durch die Entdeckung des Zwischenkieferknochens am menschlichen Schädel die Kontinuität in der Entwicklung vom Tier zum Menschen nachgewiesen.) Im Kontext der deutschen Darwin-Rezeption entstand im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und -philosophie die Ökologie als Teilbereich der Biologie, die den Blick auf die Relationen zwischen den Organismen und ihrer umgebenden Außenwelt statt auf die Organismen selbst lenkte. Zu dieser Zeit entstand auch der Naturschutz, der von vornherein sowohl von konservativer als auch von sozialrevolutionärer Seite vorangetrieben wurde.
Im ‘Dritten Reich’ wurden die Biologie und bestimmte ökologische und sozialdarwinistische Konzepte in den Dienst nationalsozialistischer Ideologie gestellt, was im Kontext der Novelle Moos als deutliche Warnung vor irrationalem Umgang mit Wissenschaft zu verstehen ist.
Ohlburg betont in diesem Kreislauf den Verlust unmittelbarer Sinneswahrnehmungen oder Anschauungen als erkenntnistheoretisches Element der Naturwissenschaft, das postromantische Auseinanderdriften von Wissenschaft und Kunst, das Eingebundensein des Menschen in die Natur, den Kreislauf als Strukturmerkmal ökologischen Denkens und die menschenfeindlichen Konsequenzen und Gefahren irrationaler Aneignung (pseudo-)wissenschaftlicher Konzepte zwecks politischer Manipulation.
Im Erinnerungskreislauf der mythischen Pflanzenmetamorphosen wird neben den konkreten Bezügen auf griechische Mythen auch mythisches Denken, wie es von Cassirer beschrieben wurde, veranschaulicht: Dazu ist sowohl das Verschwimmen der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit sowie derjenigen zwischen Realität und Irrealität zu zählen, als auch die prinzipielle Fähigkeit zur Metamorphose angesichts der Akzidentialität der Gestalt sowie hinsichtlich der eindeutigen Lokalisierung in Raum und Zeit.
Der biographische Erinnerungskreislauf veranschaulicht anhand individueller Rückblicke die Mechanismen der Erinnerung. Verschiedene Einlaßstellen sämtlicher Wahrnehmungssinne aktivieren Geschichten aus Kindheit und Jugend, die umso plastischer erinnert werden und umso besser verankert sind, je mehr Sinne mit ihnen verknüpft wurden.
Neben der aus der Wissenschaftskritik resultierenden Forderung der Ergänzung der Wissenschaften um eine ästhetische (im doppelten ‘Sinne’ von Schönheit und bezüglich körperlicher, konkreter Wahrnehmung) Dimension etablieren die im Text stets wiederkehrenden Kreisläufe das Modell eines ökologischen Kreislaufes, das als Basis neuen Naturdenkens nicht nur einem veränderten Wissenschaftsbegriff, sondern auch generell einem anderen Naturverständnis zugrundeliegen sollte.
Die Novelle kann als repräsentativ für die Debatte um ein neues Naturdenken, die in den frühen achtziger Jahren besonders unter Rückgriff auf Goethes naturwissenschaftliche Studien prägend für den ökologischen Diskurs war, gelesen werden.
Hinsichtlich der Erinnerungsfiguren kann ein Funktionieren der Verweisungsbezüge konstatiert werden: die Erinnerungsfiguren sind (noch) völlig unbeschädigt.