Umweltgeschichte im Spiegel der Umweltliteratur – das ‘Bild’gedächtnis der Ökologiebewegung
Im folgenden stelle ich chronologisch ausgewählte bedeutsame Ereignisse der Umweltgeschichte und des ökologischen Diskurses in Beziehung zu ihrer Verarbeitung in der deutschen erzählenden Umweltliteratur dar. Den Blick bestimmt dabei vor allem die Ausrichtung an der Umweltliteratur. Aufgrund des dokumentarischen Charakters der Übersicht werden manche Schlüsseltexte ausführlicher betrachtet. Bewußt wurde hinsichtlich des Korpus’ der literarischen Texte auf einen systematisierenden, Unebenheiten und Brüche glättenden Ansatz verzichtet, um die Vielfalt sowohl der behandelten Themen als auch der Art und Weise der innerfiktionalen Bezugnahme auf den Umweltdiskurs dazustellen.
Die bundesrepublikanische Ökologiebewegung begann um 1970, doch reichen ihre Vorläufer hundert Jahre zurück. Nach der Reichsgründung 1871 wurde die bis dahin nur zögerlich erfolgte Industrialisierung Deutschlands nun in weitaus größerem Maße vollzogen, so daß die Folgen für die natürliche Umwelt allerorten spürbar wurden. Gutachten wurden veröffentlicht, Vereine gegründet – wie z.B. der 1877 in Köln gegründete ‘Internationale Verein gegen Verunreinigung der Flüsse, des Bodens und der Lüfte’. Am 1.9. desselben Jahres wurde in Preußen eine Verfügung erlassen, “die einem Einleitungsverbot städtischer Abwässer in die Flüsse gleichkam”1. Die Ursachen der Wasserverschmutzung im noch jungen Deutschen Reich lagen jedoch woanders: in Sachsen beklagten sich 140 Orte über Flußverschmutzungen von den 273 genannten Verursachern waren nur 7% Kommunen, die restlichen 93% der Verschmutzer industrielle Betriebe.2
Schon vorher waren vereinzelt Klagen laut geworden: über Rauchgasschäden, Abholzungen, Bergbau – bis in die griechische Antike lassen sich Stimmen über die Sorge um Natur- und Landschaftszerstörung zurückverfolgen3. In Ländern, in denen die Industrialisierung früher einsetzte, fanden die Stimmen derjenigen, die unter den Folgen der Umweltschäden litten, entsprechend früher Ausdruck.
Was nun die Prosaliteratur angeht, ist die erste Umwelterzählung im heutigen Sinne im Kontext der oben beschriebenen Gewässerbelastung der Gründerzeit zu lokalisieren.
Pfisters Mühle – Zeugnis gründerzeitlicher Gewässerbelastung
Nach 1871 fand in Deutschland ein wirtschaftlicher Aufschwung statt, der die negativen Begleiterscheinungen des Industrialisierungsprozesses deutlich zum Vorschein brachte. Auf diese reagiert Wilhelm Raabe mit seiner Erzählung Pfisters Mühle, in der er “nicht die größte, aber eine von den größern Fragen der Zeit” behandelt: “Deutschlands Ströme und Forellenbäche gegen Deutschlands Fäkal- und andere Stoffe.”4 Alljährlich im Herbst zur Zuckerrübenernte verschmutzten die Zuckerfabriken die Gewässer derart stark, daß bspw. “1884/1885 die Braunschweiger Trinkwasserversorgung während der Zuckerkampagne zusammenbrach”5. Möglicherweise angeregt durch den Prozeß der Mühlenbesitzer Müller und Lüderitz aus Bienrode und Wenden gegen die das Flüßchen ‘Wabe’ verschmutzende Rautheimer Zuckerfabrik, der zwischen dem 29.12.1881 und dem 14.3.1883 beim Herzoglichen Landgericht Braunschweig anhängig war,6 beschreibt Raabe exemplarisch den Fall einer Mühle, die sowohl in ihrer Funktion als Getreidemühle als auch als Ausflugslokal zum Untergang verurteilt ist, da die Gewässerbelastung des Mühlbachs im Herbst einerseits das Mühlrad durch Pilzwucherungen lahmlegt sowie andererseits durch seinen Gestank7 die Gäste vertreibt.
Inwiefern in Pfisters Mühle der “Wirbel des Übergangs der deutschen Nation aus einem Bauernvolk in einen Industriestaat”8 dargestellt wird, zeichnet sich bereits in den Bildern ab, mit denen der Erzähler die topographische Lage der Mühle beschreibt:
In einer hellen, weiten, wenn auch noch grünen, so doch von Wald und Gebüsch schon ziemlich kahl gerupften Ebene war sie (die Mühle, S.J.), neben dem Dorfe, ungefähr eine Stunde von der Stadt gelegen. Aus dem Süden kam der kleine Fluß her, dem sie ihr Dasein verdankte. Ein deutsches Mittelgebirge umzog dort den Horizont; aber das Flüßchen hatte seine Quelle bereits in der Ebene und kam nicht von den Bergen. Wiesen und Kornfelder bis in die weiteste Ferne, hier und da zwischen Obstbäumen ein Kirchturm, einzelne Dörfer überall verstreut, eine vielfach sich windende Landstraße mit Pappelbäumen eingefaßt, Feld- und Fahrwege nach allen Richtungen und dann und wann auch ein qualmender Fabrikschornstein (…).9
Ist in diesem Landschaftsbild die Industrialisierung in Form qualmender Schlote dezent präsent, ändert sich dies laut Erzähler mit den allherbstlichen Zuckerkampagnen, die das Flüßchen in ein totes Gewässer verwandeln:
Damit begann nämlich in jeglichem neuen Herbst seit einigen Jahren das Phänomen, daß die Fische in unserem Mühlwasser ihr Mißbehagen an der Veränderung ihrer Lebensbedingungen kundzugeben anfingen. Da sie aber nichts sagten, sondern nur einzeln oder in Haufen, die silberschuppigen Bäuche aufwärts gekehrt, auf der Oberfläche des Flüßchens stumm sich herabtreiben ließen, so waren die Menschen auch in dieser Beziehung auf ihre eigenen Bemerkungen angewiesen.10
Aus dieser ironischen Beschreibung wechselt der Erzähler dann in eine deutlichere Tonart:
Aus dem lebendigen Fluß, der wie der Inbegriff alles Frischen und Reinlichen durch meine Kinder- und ersten Jugendjahre rauschte und murmelte, war ein träge schleichendes, schleimiges, weißbläuliches Etwas geworden, das wahrhaftig niemand mehr als ein Bild des Lebens und des Reinen dienen konnte. Schleimige Fäden hingen um die von der Flut erreichbaren Stämme des Ufergebüsches und an den zu dem Wasserspiegel herabreichenden Zweigen der Weiden. Das Schilf war vor allem übel anzusehen, und selbst die Enten, die doch in dieser Beziehung vieles vertragen können, schienen um diese Jahreszeit immer meines Vaters Gefühle in betreff ihres beiderseitigen Hauptlebenselementes zu teilen.11
Die Situation scheint nur ironisch beschreibbar zu sein. Wieder hinsichtlich des Fischesterbens fährt der Erzähler fort:
Guck, da kommen wiederum ein paar Barsche herunter, den Bauch nach oben; und daß man einen Aal aus dem Wasser holt, das wird nachgerade zu einer Merkwürdigkeit und Ausnahme. Kein Baum wird denen am Ende zu hoch, um auf ihm dem Jammer zu entgehen; und ich erlebe es noch, daß demnächst noch die Hechte ans Stubenfenster klopfen und verlangen, reingenommen zu werden, wie Rotbrust und Meise zur Winterszeit.12
Doch auch der ‘Helfer in der Not’, der dem Müller die für ein Gerichtsverfahren benötigten chemischen Gutachten erstellt, ist beileibe kein ‘Umweltengel’, sondern betreibt in Berlin mit Erfolg eine chemische Reinigung, die nun ein anderes Gewässer verschmutzt und an der der Erbe der Mühle (und Ich-Erzähler) nichtsdestotrotz Anteile hält.
Nebenan klappert und lärmt die große Fleckenreinigungsanstalt und bläst ihr Gewölk zum Abendhimmel empor fast so arg wie Krickerode (die Zuckerfabrik, S. J.). Der größere, wenn auch nicht große Fluß ist, trotzdem daß wir auch ihn nach Kräften verunreinigen, von allerlei Ruderfahrzeugen und Segeln belebt (…). 13
Die Erzählung beginnt mit dem Ausruf: “Ach, noch einmal ein frischer Atemzug im letzten Viertel dieses neunzehnten Jahrhunderts!”14, anspielend auf den innerliterarischen Gestank, mit dem sogar Raabes potentielle Verleger ihre Leserschaft abzuschrecken fürchteten.15
Im Anschluß daran zeigt der Erzähler auf, wie auch das Land Phantasien von der Industrialisierung nicht unberührt geblieben ist:
Durch die Wüste, über welcher der Vogel Rock schwebte, über welche Oberon im Schwanenwagen den tapfern Hüon und die schöne Rezia, den treuen Knappen Scherasmin und die wackere Amme führte, sind Eisenschienen gelegt und Telegraphenstangen aufgepflanzt; der Bach Kidron treibt Papiermühlen, und an den vier Hauptwassern, in die sich der Strom teilte, der von Eden ausging, sind noch nützlichere ‘Etablissements’ hingebaut (…).16
Trotz der aus heutiger Sicht empfundenen Brisanz des Themas verkaufte sich Pfisters Mühle nur mühsam; die Erstauflage von 1500 Exemplaren benötigte zehn Jahre, um über den Ladentisch zu gehen.17
Anfänge des Naturschutzes
In diese Zeit fiel der Beginn institutionalisierten Naturschutzes. 1895 gründeten die Sozialdemokraten in Wien den Touristenverein ‘Die Naturfreunde’, dessen Ziel der “freie Zugang der Natur für jeden”18 war, was aber durch das Konzept des ‘sozialen Wanderns’ eine über die Freizeitgestaltung hinausgehende politische Komponente erhielt.
Die beim Wandern gemachte Erfahrung, daß sich große Teile der landschaftlich reizvollen Natur in Privatbesitz befanden und nicht betreten werden konnten, veranlaßte die Naturfreunde, nicht mehr nur den Schutz von Naturresten zu fordern, sondern darüber hinaus den ökonomischen und politischen Ursachen von privater Landschaftsnutzung und -zerstörung nachzugehen.19
Daneben wurden auch materielle Voraussetzungen für die Erholung der Arbeiter geschaffen:
Doch das Arbeiterwandern wollte nicht nur der Erholung und der Massenbildung dienen, sondern im weitesten Sinne gelebter Sozialismus sein. Die Wiederaneignung des widerrechtlich entzogenen Besitzes an der Mutter Erde durch die Entrechteten wurde nicht nur imaginativ in Gipfelstürmen vollzogen, sondern ganz konkret durch die Schaffung kollektiven Eigentums in Form der Naturfreundehäuser.20
Aus heutiger Sicht wurde damit allerdings auch der Grundstein für einen Massentourismus gelegt, der nicht unerhebliche Umweltschäden zur Folge hatte.
Der Historiker Franz-Josef Brüggemeier beurteilt die Naturfreundebewegung als marginal, betont aber innerhalb der Arbeiterbewegung die Bemühungen um eine Verbesserung der Lebensbedingungen in den Arbeitervierteln und Industriegebieten, unter denen insbesondere die “hohe Belastung der Luft” und die “erhebliche Verschmutzung der Abwässer der Flüsse” ins Gewicht fielen. Diese Bemühungen könnten laut Brüggemeier “nach heutigen Begriffen durchaus als Umweltschutz verstanden werden”.21
In die folgenden Jahre fiel mit der Gründung des ‘Bundes für Vogelschutz’ 1899 durch die Industriellengattin Emilie Karoline (Lina) Hähnle und des ‘Bundes Heimatschutz’ 1904 durch den Musiker Ernst Rudorff, der bereits 1897 die Begriffe ‘Heimatschutz’ und ‘Naturschutz’ geprägt hatte, der Beginn des bürgerlichen Naturschutzes. Eine der größeren Aktionen der Heimatschützer war der Protest gegen ein Laufkraftwerk bei Laufenburg am Oberrhein, dem die dortigen Stromschnellen zum Opfer fallen sollten. Der Bund Heimatschutz sammelte Unterschriften, organisierte 1906 eine Demonstration mit ca. 15000 Teilnehmern, wurde unter anderem von Max Weber und Werner Sombart unterstützt und versuchte, alternative Planungsentwürfe durchzusetzen, was dem hauptsächlich von Bildungsbürgern und Architekten getragenen Verband jedoch nicht gelang.22 Der Heimat- und Naturschutz war letztlich ästhetisch motiviert, was, wie Brüggemeier hervorhebt, ambivalente Auswirkungen hatte.
Eine Konsequenz waren letztlich unergiebige Kontroversen – etwa die vehement abgelehnten Flachdächer -, die Beschwörung ländlicher Idyllen oder eine Rechtfertigung der Jagd auf Fischottern, deren Verschwinden ‘für das Landschaftsbild in keiner Weise in Betracht’ käme, da sie ohnehin so versteckt lebten. Möglich waren jedoch auch ganz andere Konsequenzen. Rudorff beklagte eine ‘Unterschätzung ästhetischer Gesichtspunkte’ und führte darauf den fehlenden Schutz ursprünglicher ‘Waldgrenzen, der Waldwiesen, der natürlichen Bachläufe, bedeutsamer Stege und Hecken’ sowie seltener Pflanzen zurück.23
1906 wurde in Preußen die ‘Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege’ unter der Leitung des Museumsfachmanns Hugo Conwentz eingerichtet, ein Musterstück ‘conwentzionellen Naturschutzes’, wie Hermann Löns 1911 zu spötteln beliebte. Conwentz gehörte zwar zu den Gründungsmitgliedern des ‘Bundes Heimatschutz’ und war bis zu seinem Lebensende dort Vorstandsmitglied, distanzierte sich jedoch deutlich von dessen Zielen, “über Naturdenkmäler hinaus auch Pflanzen und Tiere oder gar die Heimat insgesamt zu schützen”24.
Exkurs: Öko-Nazis?
Einige Nationalsozialisten befanden sich durchaus in der Tradition der Heimatschützer und Agrarromantiker, doch stand Hitlers Aufbau einer Kriegsindustrie diesen Interessen diametral entgegen. Insofern ist seine Gleichschaltung und Vereinnahmung des Naturschutzes als exklusiv machtstrategische Frage zu verstehen. Ich halte es für verfehlt, aus dem Vorhandensein einer völkisch und antimodernistisch motivierten Haltung innerhalb der NSDAP mit dem Ziel einer Reagrarisierung Deutschlands auf eine Identitätsbeziehung oder notwendige Verwandtschaft nationalsozialistischer Ideen mit dem Gedankengut der bundesdeutschen Ökologiebewegung zu schließen, wie es gelegentlich versucht wird.
Es mag zwar einerseits möglich sein, bspw. die “Charakteristika (…) des Nationalsozialismus”, wie Marie-Luise Heuser es tut, “alle auf einen agrar- bzw. ökoromantischen Kern” zurückzuführen und damit einen “historischen Nachweis der inneren Folgerichtigkeit von Natur(-) bzw. Ökoromantik und nationalsozialistischer Reagrarisierungskonzepte” zu führen, doch ist andererseits zu betonen, wie Heuser es übrigens gleichfalls tut, daß diese Charakteristika deswegen nicht vorschnell als “notwendige Konsequenzen radikal-ökologischen Denkens”25 zu verstehen sind.
Die unterschiedlichen Argumentationsstränge lassen sich recht deutlich identifizieren. Da die Frage der Zuordnung als ökologisch etikettierten Gedankengutes besonders aktuell von Interesse ist, seien hier die Thesen von Thomas Jahn und Peter Wehling vorgestellt, die aus ihrer Analyse der Parteiprogramme von ‘Republikanern’, NPD, ÖDP und DSU sowie der rechten Presse acht rechtsökologische Stereotype als Indikatoren für das Vorliegen rechtskonservativer bis rechtsextremer Strömungen extrahiert haben:
– eine grundlegende Naturalisierung gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge; – (in diesem Kontext, S. J.) die These vom Verlust ‘natürlicher Gleichgewichte’ in der ‘ökologischen Krise’; – ein fundamentalistisches Verständnis des ‘Lebensschutzes’, insbesondere in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs; – die Rede von der ‘Entfremdung’ des Menschen von Heimat, Volk und nationaler Kultur als Ursache ökologischer Zerstörungen; – der Angriff auf den westlich-liberalistischen oder östlich-kommunistischen ‘Materialismus’; – der Ruf nach dem ‘starken Staat’ als dem Garanten des (ökologischen) ‘Gemeinwohls’; – der Verweis auf die ‘Überbevölkerung’ der Bundesrepublik bzw. Deutschlands; – die Behandlung der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer als ‘ökologisches Problem’.26
Der Schock von Hiroshima und Nagasaki
Durch den Abwurf der amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 rückte die Möglichkeit der Zerstörung allen Lebens auf der Erde durch den Menschen schlagartig ins Bewußtsein. Insofern ist es berechtigt, von einem Schock zu sprechen, der die Sorge um den Lebensraum des Menschen in ein völlig neues Licht tauchte:
However, ecological concern acquired a new dimension after the Second World War. The destruction of Hiroshima revealed man’s ability to change the environment on a scale hitherto unimagined.27
Im Mittelpunkt des Interesses standen damals eher Fragen nach der Möglichkeit eines Atomkrieges, was – insbesondere nach der Debatte um die (atomare) Aufrüstung der Bundeswehr – literarisch vielfältigsten Ausdruck gefunden hat.28
1957 – der Herbst der geheimgehaltenen atomaren Unfälle
Ende September explodierte in der Plutoniumfabrik Majak bei Tscheljabinsk im Ural ein radioaktiver Container, Anfang Oktober fand in Windscale, dem heutigen Sellafield, eine Kernschmelze statt, die 30 Jahre geheimgehalten wurde. Das sowjetische Unglück unterlag noch viel schärferen Geheimhaltungsvorschriften, doch versagte die Informationszensur in einem Punkt, wie Robert Jungk 1977 darstellte:
In wissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen nämlich in den Jahren nach 1958 zahlreiche Arbeiten zum Thema der radioaktiven Verseuchung von Pflanzen, Tieren, Boden und Atmosphäre. Sie ließen präzise Rückschlüsse auf die Region zu, in der es zu diesen ungewöhnlich starken Kontaminationsphänomenen kam.29
Nach dem Unglück in Tschernobyl rätselten “westliche Strahlenspezialisten, woher die sowjetischen Forscher ihr großes Wissen über die Folgen von Nuklearkatastrophen hatten”. Erst nach Glasnost und Perestroika konnten die Wissenschaftler ihr Schweigen über dieses “Hiroshima im Ural” brechen.30
Tanz mit dem Teufel – Die Ökologie der ‘Lebensschützer’
Das Schweigen der Literatur zu Umweltthemen änderte sich erst Ende der fünfziger Jahre mit dem 1958 in der Bundesrepublik erschienenen Roman Tanz mit dem Teufel des Gründers des rechtslastigen ‘Weltbunds zum Schutze des Lebens’ Güther Schwab, der in diversen Kapiteln auf Gefährdungen des Menschen durch Umweltzerstörung hinweist. Bemerkenswert an diesem literarisch eher uninteressanten Buch ist die Tatsache, daß Schwab ausführlich über den schweren, vermutlich vom Ausmaß her mit der Katastrophe von Tschernobyl vergleichbaren Reaktorunfall in Windscale (heute Sellafield) berichtet, der offiziell erst 1987 bekannt wurde.
Insgesamt ist die gesamte Stoßrichtung des Romans jedoch ‘lebensschützerisch’ motiviert. Am deutlichsten ist die sozialdarwinistische, elitäre und völkische Grundhaltung an zwei Passagen ablesbar, die aus der Druckfassung gestrichen und gesondert in der Zeitschrift Europaruf veröffentlicht wurden. In ihnen wird damit gegen den Krieg argumentiert, daß die moderne egalitäre Vernichtungsmaschinerie dem angeblich einstigen Ziel des Kampfes, die Schwachen und Feigen auszumerzen, nicht mehr gerecht werde und außerdem deutsche Waffen z.T. sogar deutsche Soldaten töteten. 31
In anderen Argumentationssträngen wird Schwab noch deutlicher, bspw. wenn er “das plötzliche Stehenbleiben und Absinken der Kultur, die Kurzsichtigkeit und Kraftlosigkeit politischer Entscheidungen” sowie den “Geltungsverlust der weißen Rasse in aller Welt” beklagt und dies darauf zurückführt, daß “nicht die Farbigen (…) plötzlich klüger, sondern die Weißen (…) dümmer geworden”32 seien.
Vor diesem Hintergrund sollte nachvollziehbar sein, warum ich diesen Roman als rechtsideologischen Text ansehe. In den fünfziger Jahren waren jedoch die Lebensschützer offensichtlich fast die einzigen im Wirtschaftswunder-Deutschland, die die Gefährdungen durch Radioaktivität und Pestizide wahrgenommen und thematisiert haben.
Die späten fünfziger und frühen sechziger Jahre: erste Warnungen vor ökologischen Schäden
Zu den frühen Warnern, die neben den Bedrohungen durch Atom- und Wasserstoffbomben auch die Bedrohung durch industrialisierungsbedingte Schadstoffeinträge sowohl in ihrem lyrischen Werk als auch essayistisch thematisierten, gehörten in der DDR Günter Kunert und in der BRD Hans Magnus Enzensberger33, von denen ich aufgrund ihrer Bedeutung für den Umweltdiskurs in beiden deutschen Staaten jeweils ein Gedicht exemplarisch anführen möchte.
Hans Magnus Enzensberger (1957):
fremder garten // es ist heiß, das gift kocht in den tomaten. / hinter den gärten rollen versäumte züge vorbei, / das verbotene schiff heult hinter den türmen. // angewurzelt unter den ulmen, wo soll ich euch hintun, / füße? meine augen, an welches ufer euch setzen? / um mein land, doch wo ist es? bin ich betrogen // die signale verdorren. das schiff speit öl in den hafen / und wendet. ruß, ein fettes rieselndes tuch / deckt den garten. mittag, und keine grille.34
Günter Kunert (1963):
Laika // In einer Kugel aus Metall, / Dem besten, das wir besitzen, / Fliegt Tag für Tag ein toter Hund / Um unsre Erde / Als Warnung, / Daß so einmal kreisen könnte / Jahr für Jahr um die Sonne, / Beladen mit einer toten Menschheit, / Der Planet Erde, / Der beste, den wir besitzen.35
Welche Brisanz Kunerts Text gehabt haben muß, läßt sich ahnen, wenn man vergleicht, daß sich der tierschutzengagierte Pfarrer Siegfried Wend 1958 allein durch die Abbildung eines Hundes als Werbung für die Tierschutzarbeit im Kulturbund der DDR schwerste Vorwürfe einhandelte:
Die staatlichen Administratoren legten seine Tierschutz-Werbung unversehens als antisozialistische Propaganda aus, da im November 1957 der Hund ‘Laika’ in dem sowjetischen Satelliten Sputnik 2 sein Leben lassen mußte.36
Bereits 1961 forderte Willy Brandt in einer Wahlkampfrede den ‘Blauen Himmel über der Ruhr’, zwei Jahre danach veranstalteten die Naturfreunde einen Kongreß mit dem Titel ‘Natur in Gefahr, Mensch in Gefahr’.
1962 markiert die US-amerikanische Biologin Rachel Carson mit ihrem Bestseller Der stumme Frühling den eigentlichen Beginn der Umweltbewegung in den USA. Eingeleitet wird ihr im positiven Sinne populärwissenschaftliches Sachbuch über die Gefährdungen durch Pestizide und Radioaktivität durch ein Märchen, in dem sich eine unerklärliche Krankheit, die sich wie ein böser Fluch über eine amerikanische Kleinstadt gelegt hat, letztlich als anthropogen erweist.
In den sechziger Jahren gab es in der DDR kaum Stimmen, die die Euphorie der ‘wissenschaftlich-technischen Revolution’ kritisch betrachteten. 1966 handelte sich Günter Kunert für seinen Ausspruch “Ich glaube, nur noch große Naivität setzt Technik mit gesellschaftlich-humanitärem Fortschreiten gleich” die Dichterschelte des damaligen stellvertretenden Chefredakteurs der FDJ-Zeitschrift ‘Forum’ und späteren Gründungsmitglied der GRÜNEN, Rudolf Bahro, ein:
Das eigentlich Bestürzende ist die intellektuell hilflose spätbürgerliche Gesamthaltung des Dichters, die ich mir nur aus einer hochgradigen Isolierung nicht nur von unserer neu entstehenden sozialistischen, sondern von unserer Menschengesellschaft überhaupt erklären kann.37
Gespräch über Bäume I – Vietnam (Fried)
1967 stellte Erich Fried in einem Gedicht das vielfach zitierte “Gespräch über Bäume”, das “fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!”38 aus Brechts Gedicht An die Nachgeborenen in den Kontext des Vietnamkriegs:
Gespräch über Bäume // Für K.W. // Seit der Gärtner die Zweige gestutzt hat / sind meine Äpfel größer / Aber die Blätter des Birnbaums / sind krank. Sie rollen sich ein // In Vietnam sind die Bäume entlaubt // Meine Kinder sind alle gesund / doch mein jüngster Sohn macht mir Sorgen / er hat sich nicht eingelebt / in der neuen Schule // In Vietnam sind die Kinder tot (…)39
Hier werden auf der Bildebene Zusammenhänge zwischen entlaubten Bäumen, Krieg, Dioxin, Herbiziden und somit chemischer Kriegsführung hergestellt.
Neben dem Bestehen darauf, die Untaten nicht mehr zu verschweigen, markiert Fried hier auch die Verknüpfung des Bildes entlaubter Bäume mit Verbrechen an einem Land und seiner Bevölkerungim Vietnamkrieg, hier konkret des US-amerikanischen Einsatzes diverser Entlaubungsmittel, deren bekanntestes ‘Agent Orange’ war. Agent Orange war jedoch, wie Koch und Vahrenholt 1978 in ihrem Buch Seveso ist überall darstellen,
mit extrem hohen Konzentrationen des (…) Dioxins TCDD verunreinigt, (…) von dem man seit Anfang der fünfziger Jahre wußte, daß es zu den giftigsten Verbindungen zählt, die Chemiker jemals synthetisiert haben. Und man darf heute davon ausgehen, daß die amerikanischen Militärs die heimtückischen Herbizide verunreinigt ließen, um mit dieser ‘chemischen Waffe’ nicht nur die Mangrovenwälder zu entblättern, sondern auch die Zivilbevölkerung zu treffen.40
Anfänge des Umweltschutzes
Der Begriff ‘Umweltschutz’ wurde 1969 in Anlehnung an die Bezeichnung ‘environmental protection’ von einem Beamten im von der FDP geleiteten Gesundheitsministerium erfunden, dem der Name seiner Abteilung ‘Gewässerschutz, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung’ zu umständlich war.41 Das Jahr 1970 wurde zum ‘Europäischen Naturschutzjahr’ erklärt. Wie Brüggemeier herausstellt, war der Umweltschutz keine Reaktion der Exekutive auf den Druck der Öffentlichkeit, sondern ging, zumindest als administrativer Akt, der eigentlichen Ökologiebewegung voraus.
In einem Rückblick auf die ökologische Situation der frühen sechziger Jahre stellte Hans Magnus Enzensberger 1970 die Lage folgendermaßen dar:
Fallout 1960: (…) die Bedürfniswecker fingen an zu klingeln. Zugleich immer mehr ‘Tests’, denen wir wie Meerschweinchen ausgeliefert waren. Papa Teller sorgte dafür, daß der Strontiumgehalt in unseren Knochen nicht nachließ. Die japanischen Fischer, die ‘Antiquiertheit des Menschen’, (…) dazu die ersten Vorahnungen von einer ökologischen Katastrophe, deren volles Ausmaß erst heute absehbar geworden ist: die technokratische Gesellschaft als planetarische Giftmörderin. (…) Daß uns unser eigener Friede umbringen wird, ist inzwischen nur noch absehbarer geworden.42
Edward Teller war der Erfinder der Wasserstoffbombe, die Rede von den ‘japanischen Fischern’ bezieht sich auf die Besatzung des japanischen Fischerbootes Fukuryu Maru 5, die 1954 in das Fallout eines amerikanischen Bombentests auf dem Bikini-Atoll geraten waren, und auf das auf dieses Ereignis bezogene Hörspiel von Wolfgang Weyrauch gleichen Titels. Die Antiquiertheit des Menschen spielt auf den Buchtitel von Günther Anders an, der in seiner zweibändigen “philosophische(n) Anthropologie im Zeitalter der Technokratie”43 eine weitverbreitete ‘Apokalypseblindheit’ diagnostiziert. Überdies werden noch verschiedene Bildebenen miteinander verknüpft: die “Gesellschaft als planetarische Giftmörderin” wird in den Kontext der Bedürfniswecker gestellt, was die ökologischen Konsequenzen des Konsumrausches auf der Bildebene zu einer Art ‘Beschaffungskriminalität’ werden läßt, zu einem Suchtverhalten geschuldeten Verbrechen. Die Metaphorik des Giftmordes als heimtückische Weise des Tötens, die hier die Verantwortlichkeit der Industrienationen für die sogenannte Dritte Welt anklingen läßt, fundiert gleichermaßen eine für die Ökologiebewegung symptomatische emotionale Befindlichkeit: ‘Wir werden vergiftet!’.
Daneben löst Enzensberger hinsichtlich der Gefahren durch Radioaktivität die assoziative Verklammerung von Atom und Krieg zugunsten einer Bewußtmachung der auch in Friedenszeiten bestehenden Gefährdung, da Atomtests und die zivile Nutzung der Kernenergie (sowohl zur Energiegewinnung als auch im Zuge sogenannter ‘friedlicher Explosionen’) nicht weniger bedrohlich als der militärische Einsatz von Atomwaffen sind.
Diese Rekontextualisierung durch die Schaffung neuer Bezüge in der Lesart der ökologischen Krise als einer kriegsähnlichen Bedrohung in Friedenszeiten ist m.E. richtungsweisend für die weitere Entwicklung der Ökologiebewegung.
(Fußnoten Teil 1, darunter weiter mit Teil 2)
1 Rommelspacher, Thomas: Das natürliche Recht auf Wasserverschmutzung. Geschichte des Wassers im 19. und 20. Jahrhundert, in: Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Franz-Josef Brüggemeier und dems., München 1989, S. 42-63, S. 43
3 Die Nachzeichnung historischer Diskurse um Naturzerstörung ist Gegenstand der Umweltgeschichte. Als repräsentative Beispiele seien genannt: Brüggemeier, Franz-Josef: Das Unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikogesellschaft im 19. Jahrhundert, Essen 1996; Brüggemeier, Franz-Josef: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung, München 1998; Fortschritte der Naturzerstörung, hrsg. v. Rolf Peter Sieferle, Frankfurt/M. 1988; Gasseleder, Klaus: Und ewig strahlt der ‘Nachbar’. Wie der Bau des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld gegen den regionalen Widerstand durchgesetzt wurde, Schweinfurt 1993; Kein Friede den Hütten… Die Tage der ‘Freien Republik Wackerland’, hrsg. v. Werner Grassl, Klaus Kaschel, Burglengenfeld 1986; Klassenfeind Natur. Die Umweltkatastrophe in Osteuropa, hrsg. v. Valentin Thurn, Bernhard Clasen (‘ökozid extra’), Giessen 1992; Linse, Ulrich: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegung in Deutschland, München 1986; Linse, Ulrich; Falter, Reunhard; Rucht, Dieter; Kretschmer, Winfried: Von der Bittschrift zur Platzbesetzung. Konflikte um technische Großprojekte. Laufenburg, Walchensee, Wyhl, Wackersdorf, Berlin / Bonn 1988; Mensch und Umwelt im Mittelalter, hrsg. v. Bernd Herrmann, Stuttgart 1986; Umweltgeschichte: das Beispiel Hamburg, hrsg. v. Arne Andersen, Hamburg 1990; Von der Angst zur Ausbeutung. Umwelterfahrung zwischen Mittelalter und Neuzeit, hrsg. v. Ernst Schubert, Bernd Herrmann, Frankfurt/M. 1994; Weeber, Karl-Wilhem: Smog über Attika. Umweltverhalten im Altertum, Zürich / München 1990
5 Denkler, Horst: Nachwort, in: Pfisters Mühle, a.a.O., S. 234. Zu ‘Pfisters Mühle’ im Kontext der Umweltzerstörung liegen verschiedene Beiträge vor. Bspw. seien genannt: Bayerl, Günter: Herrn Pfisters und anderer Leute Mühlen. Das Verhältnis von Mensch, Technik und Umwelt im Spiegel eines literarischen Topos, in: Technik in der Literatur, hrsg. v. Harro Segeberg, Frankfurt/M. 1987, S. 51-101; Detering, Heinrich: Ökologische Krise und ästhetische Innovation im Werk Wilhelm Raabes, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 1992, S. 1-27; Hädecke, Wolfgang: Hortus amoenus, oder: Das Ende von Pfisters Mühle, in: ders.: Poeten und Maschinen. Deutsche Dichter als Zeugen der Industrialisierung, München / Wien 1993, S. 336-351; Helmers, Hermann: Raabe als Kritiker der Umweltzerstörung, in: literatur für leser 3/87, S. 199-211; Kaiser, Gerhard: Der Totenfluß als Industriekloake. Über den Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Phantasie in ‘Pfisters Mühle’ von Wilhelm Raabe, in: ders.: Mutter Natur und die Dampfmaschine, Freiburg 1991, S. 81-107; Rindisbacher, Hans J.: L’Odeur De Pfister: The Bittersweet Smell of Success in the German Realist Novel, in: The Germanic Review 68:1, Winter 1993, S. 22-31; Sammons, Jeffrey L.: The Mill on the Sewer: Wilhelm Raabe’s Pfister’s Mill and the Present Relevance of Past Literature, in: Orbis Litterarum 1985, H. 40, S. 16-32
7 Die Mikroorganismen, die die Selbstreinigungsfähigkeit der Gewässer gewährleisten, verbrauchen bei ihrer Arbeit Sauerstoff. Der Abbau von Zucker erfordert besonders viel Sauerstoff, so daß Sauerstoffmangel entsteht und der Abbau von Schmutzstoffen nur noch verzögert und unvollständig erfolgen kann, was aufgrund der Endprodukte Ammoniak und Schwefelwasserstoff als Geruch von ‘faulen Eiern’ wahrgenommen werden kann. (Vgl. Dörfler, Marianne; Dörfler, Ernst (Paul): Zurück zur Natur? Leipzig / Jena / Berlin 1986, S. 170)
15 Julius Rodenberg, der Herausgeber der Deutschen Rundschau, entschied sich gegen einen Abdruck von Pfisters Mühle, weil er “die Leser seiner Zeitschrift nicht mit dem ‘fatalen Geruch’ belästigen” wollte. (Denkler, Nachwort, a.a.O., S. 227)
18 Zimmer, Jochen: Soziales Wandern. Zur proletarischen Naturaneignung, in: Besiegte Natur, a.a.O., S. 158-167, S. 159
20 Linse, Ulrich: Ökopax und Anarchie. Eine Geschichte der ökologischen Bewegung in Deutschland, München 1986, S. 52
21 Brüggemeier, Franz-Josef: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung, München 1998, S. 117
25 Heuser, Marie-Luise: Was grün begann endete blutigrot, in: Industrialismus und Ökoromantik. Geschichte und Perspektiven der Ökologisierung, hrsg. v. Dieter Hassenpflug, Wiesbaden 1991, S. 43-64, S. 60f (Hervorhebung von mir, S.J.).
26 Jahn, Thomas; Wehling, Peter: Ökologie von rechts. Nationalismus und Umweltschutz bei der Neuen Rechten und den ‘Republikanern’. Frankfurt/New York 1990, S. 14.
27 Goodbody, Axel: Deutsche Ökolyrik. Comparative Observations on the Emergence and Expression of Environmental Consciousness in West and East German Poetry, in: German Literature at a Time of Change 1989-1990. German Unity and German Identity in Literary Perspective, hrsg. v. Arthur Williams, Stuart Parkes und Roland Smit, Bern / Berlin / Frankfurt/M. u.a. 1991, S. 373-400, S. 373
28 Als Beispiele seien hier nur von Arno Schmidt: ‘Schwarze Spiegel’ (1951) und von Hans Wörner: ‘Wir fanden Menschen’ (1948) genannt.
29 Jungk, Robert: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, München 1977, S. 35f. Vgl. auch: Mironowa, Natalja; Jakimets, Wladimir: Tschernobyl 1949. Die Plutonium-Fabrik von Tscheljabinsk, in: Klassenfeind Natur. Die Umweltkatastrophe in Osteuropa, hrsg. v. Valentin Thurn und Bernhard Clasen, Gießen 1992, S. 62-70
31 “Der Urkrieg der Primitiven war eine moralische Einrichtung mit dem Ziel der positiven Auslese. Er stand im Dienste des Lebens und des guten Todes. (…) Es war ein Kampf Mann gegen Mann mit Fäusten und Füßen, mit der lebendigen Kraft der Leiber. Der Tapfere ist immer besser als der Feige, der Lebensstarke gütiger als der Lebensschwache, der Sieger wahrhaftiger als der Unterlegene. Der Neid, die Hinterlist, die Bosheit werden von den Feiglingen in die Welt getragen, von den Erbärmlichen, von den Schlechtweggekommenen. Ein Kampf, der sie überwand, war ein sittlicher Kapf, ein Sieg des Lebens. (…) Aber von der Stunde an, wo die Gehirnentwicklung den Menschen befähigte, zum ersten Mal einen Stein vom Boden aufzuheben, um ihn aus dem Hinterhalt gegen einen Feind zu schleudern, verlor der Kampf seinen sittlichen Wert. Von da an tötete der Schwache den Starken, der Feige den Tapferen, der Schlechtere den Besseren. Der Krieg hatte seine auslesende Wirkung verloren, er hatte aufgehört, eine moralische Einrichtung zu sein. Vom Stein bis zur Atombombe ist nur ein Schritt. Der Unterschied liegt nur im Quantitativen.” (Schwab, Günther: Jahrmarkt für Heldentum. Aus dem Urmanuskript: ‘Der Tanz mit dem Teufel’, in: Europaruf, 3. Jg. 1959, Folge 1, S. 5f., S. 5)
“Die englische Flotte zielte in der Skagerrakschlacht mit optischen Instrumenten, die von Zeiß und Goerz nach Holland geliefert wurden. Vor Douaumont blieben die deutschen Soldaten im Stacheldraht der Magdeburger Draht- und Kabelwerke hängen, die Deutschland zwei Monate vorher in die Schweiz geschickt hatte. (…) Deutsche Soldaten starben an der russischen Front im Feuer von Waffen, die die deutschen Rüstungsfabriken hergestellt hatten.” (Schwab, Jahrmarkt für Heldentum, a.a.O., S. 6)
33 Vgl. auch: Kasper, Elke: “Morgen ist über alledem Ruh”. Ökologische Aspekte in der Lyrik Günter Kunerts, in: Literatur und Ökologie, hrsg. v. Axel Goodbody, Amsterdam / Atlanta 1998, S. 85-99; Subiotto, Arrigo: From everyday to doomsday. The critique of progress and civilisation in Hans Magnus Enzensberger’s writings, in: Literatur und Ökologie, a.a.O., S. 69-84
34 Enzensberger, Hans Magnus: fremder garten, in: Die Erde will ein freies Geleit. Deutsche Naturlyrik aus sechs Jahrhunderten, hrsg. v. Alexander v. Bormann, Frankfurt/M. 1984, S. 295f
35 Kunert, Günter: Laika, in: Moderne deutsche Naturlyrik. hrsg. v. Edgar Marsch, Stuttgart 1980, S. 215
36 Baranzke, Heike: Kirche und Tierschutz in der DDR, in: Jahrbuch Ökologie 1996, hrsg. v. Günter Altner, Barbara Mettler-Meibom, Udo E. Simonis, Ernst U. von Weizsäcker, München 1995, S. 294-299, S. 295
38 Brecht, Bertold: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Frankfurt 1988, Bd. 12, S. 85
39 Fried, Erich: Gespräch über Bäume, in: Anfechtungen, Berlin 1967, zit. nach: Moderne deutsche Naturlyrik, a.a.O., S. 180
40 Koch, Egmont R.; Vahrenholt, Fritz: Seveso ist überall. Die tödlichen Risiken der Chemie, Köln 1978, S. 231
42 Enzensberger, Hans Magnus, in: Nachkrieg und Unfriede. Gedichte als Index 1945-1970, hrsg. v. Hilde Domin, Stuttgart 1970, S. 52, zit. nach: Subiotto, From everyday to doomsday, a.a.O., S. 72
43 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 9
Die siebziger Jahre
Anfänge einer “Volksbewegung für Umwelthygiene”
1971 stellte Christian Schütze im Merkur mit einem Blick auf die amerikanische Umweltbewegung fest, daß in Europa “eine vergleichbare Volksbewegung für Umwelthygiene bislang nicht zustande gekommen”1 sei. In diesem Aufsatz fordert er, das herkömmliche Naturschutzdenken “durch ein Umweltbewußtsein, das etwas weiter reicht als bis zur Baumgruppe am Horizont des Dorfes, so wichtig deren Erhaltung auch sein mag”, zu ersetzen.
Vom konservierenden Naturschutz, der ständig in der Defensive ist und Schritt um Schritt zurückgedrängt wird, müssen wir zur aktiven Vorwärtsverteidigung kommen. Nicht die Erhaltung der Natur, wie sie in Resten uns überkommen ist, kann die Bewohnbarkeit der Erde sichern, sondern nur vernünftige Steuerung der unablässigen, unaufhaltsamen Verwandlung dieser Welt.2
Gegen Ende des Beitrags wurde er in seiner Kriegsmetaphorik noch drastischer:
Die Natur ist durch Aggression mit den Waffen Wissenschaft, Technik und Industrie unterworfen und gezähmt worden. Sie geht im Geschirr des Menschen. Da wir ihr keine Ruhe lassen können, wenn wir leben wollen, müssen wir sie umso intensiver pflegen, je mehr wir sie ausbeuten. Und zwar mit demselben großen Einsatz von Wissenschaft, Technik und Industrie. Die Forschung hat ihren Beitrag geleistet: Ökologie, die neue Wissenschaft von der Erhaltung der Umwelt und ihren Gesetzen, ist voll ausgebildet. Die Technik stellt Mittel bereit, die Erde entweder zu verwüsten oder zu regenerieren.3
Damit ist hinsichtlich der Kriegsmetaphorik noch ein weiterer Assoziationsraum eröffnet: der des Krieges gegen die Natur, dem nun gleichfalls Einhalt geboten werden sollte.
Die Grenzen des Wachstums
Einen Meilenstein im Umweltbewußtsein stellte 1972 die Veröffentlichung der vom Club of Rome in Auftrag gegebenen Studie über die Grenzen des Wachstums von Dennis Meadows u.a. dar. Der Philosoph Heinz-Ulrich Nennen bezeichnet dieses Ereignis in seinem Überblick über die Geschichte der Ökologie als ‘ökologische Wende’ und führt aus:
Dieser erste, der ‘Berichte’ des Club of Rome ‘zur Lage der Menschheit’, ist in erster Linie ein Medienereignis. Der apokalyptische Charakter der Aussagen, die gewisse Aura des ‘Club of Rome’, die an Geheimlogen denken läßt, der Einsatz des Computers, der in den Berichten zum Sinnbild für Wissenschaftlichkeit wird, und nicht zuletzt der geschickte, fast virtuos zu nennende Einsatz der Medien – der Bericht erscheint in elf Sprachen gleichzeitig -, verfehlten die beabsichtigte Wirkung nicht. (…) Weltweit entsteht damit ein Umweltbewußtsein, das seit Rachel Carsons ‘Silent Spring’ bereits latent vorhanden war, das nun aber in einen Widerspruch tritt zur Fortschrittsdiktion und dieses umso mehr, als im Herbst 1973 die Industrienationen mit der sogen. ‘Erdölkrise’ konfrontiert werden.4
Schafe blicken auf
1972 erschien der Science-Fiction-Roman des britischen Autors John Brunner The Sheep Look Up (Schafe blicken auf), der eindrücklich die alltäglichen katastrophalen ökologischen Zustände um die Jahrtausendwende schildert. In einem Jugendbuch aus dem Jahr 1986 wird der Text wie folgt zusammengefaßt:
Der Roman hatte wie ein Schock auf ihn (den Protagonisten des Jugendbuches, S.J.) gewirkt. Er war ein Panorama der unmittelbaren Zukunft, etwa zum Ende des 20. Jahrhunderts, wie sie sich der Autor John Brunner vorstellte. 1972 hatte er das Buch geschrieben, und schon waren einige seiner Prophezeiungen eingetroffen. Brunner schildert eine Welt, die unbewohnbar zu werden begann, in der Luftverschmutzung, ungenießbares Wasser und vergiftete Nahrung zu einer schweren Last für die Menschen geworden waren.5
Das Ende der Vorsehung
Gleichfalls 1972 erschien in der BRD Das Ende der Vorsehung – Die gnadenlosen Folgen des Christentums von Carl Amery, das besonders in kirchlichen Kreisen der DDR diskutiert wurde und zur Grundsteinlegung der kirchlichen Umweltbewegung der DDR beitrug.6 Amery bezieht sich auf die Studie des Club of Rome und zeigt auf, “daß der gegenwärtige Weltzustand durch einen weltweiten Konsens herbeigeführt” worden sei, den er als Folge der Verinnerlichung bestimmter “Leitvorstellungen der jüdisch-christlichen Tradition” charakterisiert.7 In seiner Diagnose beschreibt er die Situation als “totalen Sieg der christlich orientierten Menschheit, der gleichzeitig die totale planetarische Krise ist”.8
Zur Kritik der politischen Ökologie
Wiederum gab Hans Magnus Enzensberger einen wichtigen Anstoß, diesmal 1973 in seinem Aufsatz Zur Kritik der politischen Ökologie, der “einer der ersten” war, “in denen sich die bundesrepublikanische Linke überhaupt mit Umweltfragen beschäftigte”, und in dem es Enzensberger gelang, “das Umweltthema als linkes Thema zu reklamieren”.9 Der Aufsatz endet mit der Feststellung, daß ein Überleben in der ökologischen Krise wenn überhaupt, dann nur im Sozialismus möglich sei, gleichzeitig aber eine (sozialistische) Zukunft nur durch das Angehen der ökologischen Frage möglich wird:
Wenn die ökologische Hypothese (nämlich die, daß die ökologischen Widersprüche die industrialisierten Gesellschaften zusammenbrechen lassen werden, S.J.) zutrifft, dann haben die kapitalistischen Gesellschaften diese Chance, das Marxsche Projekt der Versöhnung von Mensch und Natur, wahrscheinlich definitiv verwirkt. Die Produktivkräfte, welche die bürgerliche Gesellschaft freigesetzt hat, sind von den gleichzeitig entfesselten Destruktivkräften eingeholt und überholt worden. Den Preis für ihre versäumte Revolution werden die hochindustrialisierten Länder des ‘Westens’ nicht allein zu tragen haben. Der Kampf gegen den Mangel ist ein Erbe, das sie der ganzen Menschheit hinterlassen, auch dort, wo sie die Katastrophe übersteht. Was einst Befreiung versprach, der Sozialismus, ist zu einer Frage des Überlebens geworden. Das Reich der Freiheit aber ist, wenn die Gleichungen der Ökologie aufgehen, ferner gerückt denn je.10
Die Schwierigkeit des Prozesses, die bundesdeutsche Linke für die ökologische Problematik zu sensibilisieren, schildert der Historiker Rolf-Peter Sieferle leicht ironisch folgendermaßen:
Man muß sich angesichts dieser Zeilen vor Augen halten, daß zur Zeit der Ölkrise und inmitten der öffentlichen Diskussion um die Grenzen des Wachstums die linken Zeitschriften noch voll von Artikeln waren, in denen es um ‘Staatsableitungen’, Klassenanalysen, Imperialismustheorien und Organisationsfragen ging. Es zeigte sich mit übergroßer Deutlichkeit, wie sehr ein geronnenes Erklärungssystem wie der Marxismus dazu tendiert, sich abzuschotten und nur solche Fragen als diskussionswürdig anzuerkennen, die es selbst generiert hat. Es gelang schließlich durchaus, den ökologischen Komplex nachträglich in den Marxismus einzubauen. Dazu mußten einige Begriffe neu definiert werden (z.B. Produktivkräfte), doch fanden sich bald die passenden Klassikerzitate, die Marx und Engels zu den Erzvätern der Umweltbewegung werden ließen.11
Energiepolitische Folgen der Ölkrise
Nach der Ölkrise von 1973 begann in beiden deutschen Staaten eine Umorientierung der Energiepolitik. In der DDR wurde als Reaktion auf die steigenden Ölpreise verstärkt auf die – in den ostdeutschen Kohlerevieren extrem schwefelhaltige – Braunkohle gesetzt, was neben den Schäden durch den Tagebau wiederum negative Auswirkungen auf die Luftqualität hatte.
Mit der Ölkrise, die sich verspätet auf die DDR auswirkte durch gedrosselte und überteuerte Öllieferungen aus der UdSSR, wurde das Land unter anderem zur Rückumstellung auf Braunkohlefeuerung gezwungen. Das führte geradewegs in die ökologische Katastrophe. Die Wälder im Dreiländereck Polen, CSSR, DDR starben, die Böden versauerten, Kinder und empfindliche Erwachsene erkrankten an Bronchitis, Pseudokrupp und Allergien. Bausubstanz zersetzte sich, Kulturdenkmäler zerbröselten. Unbegreiflicherweise wurde eine öffentliche Energiesparmaßnahme um jeden Preis vermieden. Die DDR avancierte zum größten Luftverschmutzer Europas.12
In der Bundesrepublik begannen mit den Planungen von Standorten für Atomkraftwerke, Wiederaufbereitungsanlagen und Zwischen- resp. Endlagerstätten die Proteste der Bürgerinitiativen gegen die Atomkraft. Der Widerstand in Wyhl bildete den Auftakt für die vielen Aktionen der Anti-AKW-Bewegung. Rückblickend schildert Walter Moßmann den Beginn der Proteste als Widerstand gegen einen ‘Krieg gegen die eigene Bevölkerung’:
Im Herbst 1974, während der Platzbesetzung in Marckolsheim, hat Meinrad Schröder von der BI Wyhl gesagt: ‘…dieser Krieg, der über uns geht…’ (…) Gemeint waren die Atomkraftwerke, die Umweltzerstörung, die ökologischen Katastrophen.13
In der DDR formierten sich die bereits erwähnten Diskussionsforen der Evangelischen Kirche parallel zu den Bürgerinitiativen in der BRD und bildeten somit eine Grundlage für die dortige inoffizielle Umweltbewegung.
The roots of the unofficial green movement in the GDR lie in discussion groups in the ‘Evangelische Kirche’ in the early seventies. (…) While their attempts to create an alternative culture had much in common with contemporaries in the ‘Bürgerinitiativen’ and the emerging green movement in the Federal Republic (one thinks of the protest communities in Wyhl and Gorleben), they did not share the latter’s concern with nuclear technology.14
Gespräch über Bäume II – Ökologie (Kunert)
Variationen des bereits erwähnten Brechtschen Diktums “Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!”15 gehören zu den Standards der frühen Umweltbewegung. Ende 1974 schrieb der noch in der DDR lebende Günter Kunert in einem Aufsatz über Christa Wolf:
Ein Gespräch über Bäume ein Verbrechen? Auf einem Planeten, von dem heute bereits rund 50% des Waldbestandes abgeholzt sind, zeigt sich schon solches Gespräch als daseinserforderlich. Die Veränderungen zwischenmenschlicher Beziehungen, wie wir sie nach der Lektüre der Klassiker, nach dem Überzeugtsein von ihren Argumenten, erhofft und erwartet hatten, waren bei den Klassikern und damit in unserer Fantasie unwillkürlich auf dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts gedacht, auf der Folie einer zwar nicht intakten Gesellschaft, aber einer ökologisch intakten Erde. Und so werden vermutlich die Veränderungen besagter Beziehungen künftig anderen und nur ahnbaren Einflüssen unterliegen, Zwängen und Deformationen, deren Druck auszuhalten die herkömmlichen seelischen Verarbeitungsmechanismen wie Frivolität und Zynismus und Resignation vielleicht gar nicht mehr ausreichen werden.16
Gründung des BUND
Um zu einer effizienten Kraft werden zu können, war es wichtig, daß sich in der Bundesrepublik die verschiedenen Stränge des bürgerlichen Naturschutzes und des administrativen technischen Umweltschutzes mit den Bürgerinitiativen, also der Ökologiebewegung als ‘neuer sozialer Bewegung’ koordinierten. Mit der Gründung des ‘Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschlands’ (BUND) am 20.7.1975 gelang auf Initiative von Horst Stern, Hubert Weinzierl, Konrad Lorenz, Robert Jungk und Bernhard Grzimek die Zusammenführung von Naturschutz und Umweltschutz. Die Bürgerinitiativen hatten sich schon 1972 zum ‘Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz’ (BBU) zusammengeschlossen.17
Der Untergang der Stadt Passau
1975 erschien in der Bundesrepublik der Science-Fiction-Roman Der Untergang der Stadt Passau von Carl Amery18, einem der frühen Warner vor ökologischen Schäden, der die Auseinandersetzungen um Rohstoffe in einer als nah geschilderten postindustriellen Zukunft thematisiert.
Seveso
Mit der Katastrophe von Seveso im Juli 1976, bei der eine ‘Giftwolke’ mit ca. 2,5 kg Dioxinen (TCDD) freigesetzt wurde, ging ein Schock hinsichtlich der Gefahren der chemischen Industrie durch die Bevölkerung. Koch und Vahrenholt schreiben in ihrem ‘Klassiker’ Seveso ist überall:
Wir haben die Folgen des Chemie-Unfalls vorort gesehn: die vom Gift entstellten Kinder (durch Chlorakne, S.J.), die um die Gesundheit ihrer ungeborenen Babys bangenden Schwangeren, die Menschen, die Haus und Hof verloren – Eindrücke, die man so schnell nicht wieder vergißt. Hierzulande ist mit den nachlassenden Katastrophenmeldungen auch die Angst vor einem ähnlichen Störfall sehr schnell verdrängt worden, in der Annahme, daß es sich eben um eine typisch italienische Schlamperei handelte. (…) Aber sind nicht die Probleme der chemischen Industrie allgegenwärtig?19
Koch und Vahrenholt stellen die Ereignisse in Seveso explizit in den Kontext von Rachel Carsons Sachbuch Der stumme Frühling, das Carson, wie bereits erwähnt, mit einem ‘Zukunftsmärchen’ einleitet. Aus diesem zitieren die Autoren von Seveso ist überall eine längere Passage, um dann anzuschließen:
Mit diesem ‘Zukunftsmärchen’ (…) begann (…) Rachel Carson im Jahre 1962 ihr (…) Buch Der stumme Frühling, in dem sie Anklage erhob gegen den Pesthauch der modernen Chemie, gegen die zunehmende Verseuchung der Umwelt durch Insektizide und Herbizide. Damals schloß die Autorin ihre Schreckensvision mit den Worten: ‘Diese Stadt gibt es in Wirklichkeit nicht’. Seit dem 10. Juli 1976 gibt es sie.20
Krabat I
Als der erste Umweltroman der DDR kann Krabat oder Die Verwandlung der Welt von Jurij Brzan, einem sorbischen Autor, angesehen werden. Der sorbische Sagenstoff von Krabat, der bundesdeutschen Lesern durch das Jugendbuch von Otfried Preußler bekannt ist, wird hier mit dem Faust-Stoff verschmolzen und aktualisiert: Der Wissenschaftler Jan Serbin hat den genetischen Code entschlüsselt und besitzt damit theoretisch den Zugang zur völligen Veränderung der Welt. Er verwandelt sich in Krabat und reist mit dem Müller Jakub Kuschk und dem Mädchen Smjala durch die Welt, um Kriterien für seine Entscheidung zu finden. Gleichzeitig ist durch die Anbindung an ein sorbisches Dorf und eine dort seit ‘Urzeiten’ ansässige Familie ein regionaler Bezug hergestellt, der für bundesdeutsche Leser zuerst irritierend an Heimatliteratur erinnert. Davon kann jedoch nicht die Rede sein, eher von einer erzählerischen Umsetzung der Formel ‘think global, act local’ im Nebeneinander lokaler und globaler Bezüge.21 Der Text beschreibt spürbare Umweltschäden und stellt gleichzeitig deutlich die Gefahren der Gen-Technologie heraus.
Er beharrte starr auf seiner Meinung, daß die Biologen ihrer Verantwortung nur dann gerecht würden, wenn sie ihre Gen-Forschungen einstellten (…) Das ist keine Sache des guten oder schlechten Charakters irgendeines Mannes, (…) sondern die des Bestehens einer Gesellschaftsordnung, die jede menschliche Leistung in Profit berechnet, und der Gefahr, daß Macht mißbraucht werden kann.22
Die Frage, inwiefern Literatur etwas an gegebenen Zuständen ändern könne, wird fiktionsintern beantwortet:
Glauben Sie, daß Ihr Schreiben irgend etwas ändert? frage ich. Ich bin ein Teil der menschlichen Vernunft oder der vernünftigen Menschlichkeit, antwortete er. Sie ändert. (…) Früher (…) habe ich geglaubt, unser Schreiben könnte den neuen Menschen erschaffen. Es war der – verzeihliche – Irrtum eines Anfangs. Heute weiß ich, daß der Mensch sich selbst erschafft, mühselig und so langsam, daß kein Zeitraffer sein Werden erfassen kann. Mein Anteil daran besteht darin, daß ich über diesen Prozeß nachdenke und daß unter meinen Gedanken welche sind, die dem einen oder dem anderen seine Selbstwerdung erleichtern, und sei es um das Gewicht eines Menschenhaares.23
Deutlich ist darüberhinaus ein Appell zum öffentlichen Protest gegen die Umweltzerstörung im Text enthalten, auch wenn der Satz, den Krabat vor sich hin murmelt, nicht zuende gesprochen wird: “Eine ganze Stadt empörte sich, weil der Rat beschloß, zehntausend Stadttauben zu vergiften. Wieso empören sich nicht alle Städte der Welt, wenn…”24
Biermann und die fehlende Kritiktoleranz
Im November 1976 verweigerten die Behörden der DDR Wolf Biermann nach einer Konzertreise nach Köln die Rückkehr. Das hatte enorme Proteste der Intellektuellen und Künstler der DDR zur Folge. In dem von 106 Künstlern unterzeichneten Protestbrief heißt es unter anderem:
Wolf Biermann war und ist ein unbequemer Dichter – das hat er mit vielen Dichtern der Vergangenheit gemein. Unser sozialistischer Staat, eingedenk des Wortes aus Marxens ‘18. Brumaire’, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müßte im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können.25
Wie wenig der sozialistische Staat Binnenkritik überhaupt zu ertragen bereit und fähig war, ist heute hinlänglich bekannt. Auch in puncto Umweltkrise waren die Abwehrreaktionen so groß, daß Jörg Naumann, einer der Mitgründer von Greenpeace in der DDR, im nachhinein urteilte: “Für den Umweltschutz war in der DDR auch deshalb kein Geld da, weil die Staatssicherheit Unsummen zur Bekämpfung der Umweltarbeit ausgab.”26
Die Leute von Gomorrha und Der Atomkrieg von Weihersbronn
1977, auf dem Höhepunkt der Aktivitäten der ‘Rote Armee Fraktion’ und der Terroristenfahndungen in der Bundesrepublik, fand sich in Wolfgang Hädeckes Roman Die Leute von Gomorrha27 ein bedrückendes Nebeneinander von Umweltzerstörung und politischer Repression. Der im gleichen Jahr erschienene Öko-Thriller Der Atomkrieg von Weihersbronn von Felix Huby28 thematisierte den Umgang mit radioaktivem Material und die Sicherheitsvorkehrungen in einem bundesdeutschen Atomkraftwerk.
Der Atomstaat
Gleichfalls 1977 veröffentlichte Robert Jungk sein Buch Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, in welchem er darstellt, daß die Sicherheit der kerntechnischen Anlagen – wenn überhaupt – nur im Rahmen eines Polizeistaates gewährleistet werden kann. In einem zum Jahresende in der Zeitschrift Kursbuch erschienenen Text zu demselben Thema spielt er mit seinem Untertitel Ein Brief an die Nachgeborenen, sofern es sie noch gibt29 explizit auf das häufig zitierte Brecht-Gedicht an.
Gespräch über Bäume III – Umweltliteratur (Buch)
Im selben Jahr schrieb Hans Christoph Buch eine Art Programmatik der ökologisch engagierten Literatur, in der immer noch die Überzeugungsarbeit zu leisten war, daß Umwelt durchaus ein linkes Anliegen ist.
Es bedurfte erst der Schocks von Wyhl und Brokdorf, um auch linke Literaten davon zu überzeugen, daß die Erhaltung der natürlichen Umwelt nicht nur ein konservatives Anliegen ist. (…) Die Wiederentdeckung der Natur (…) ist zum Schlüsselwort für die späten 70er Jahre geworden, so wie der Aufbruch in die Gesellschaft für die späten 60er.
Dies verdeutlicht noch einmal das geistige Klima der kritischen Linken in den frühen Siebzigern, die Umweltschutz vorschnell mit bürgerlichem Heimatschutz gleichsetzten, so daß es nötig war, ökologische Themen als relevant auch jenseits von Heimatkunde herauszustellen. Wie Kunert 1974 an das Brecht-Zitat aus An die Nachgeborenen anschließend konstatiert Buch in einer aktualisierten Paraphrase:
Was ist geschehen? Warum erscheint uns der Satz, daß ein Gespräch über Bäume fast schon ein Verbrechen ist, heute fast schon selbst verbrecherisch? Weil es nicht mehr sicher ist, ob es in hundert Jahren überhaupt noch Bäume geben wird auf dieser Erde, und weil das Schweigen über Bäume das Verschweigen so vieler Untaten einschließt, denen nicht allein Bäume zum Opfer fallen.
Daraufhin beschreibt er die Allgegenwart der Umweltkatastrophen und die empfundene Ohnmacht angesichts der Irreparabilität der Schäden.
Das Warten auf den großen GAU (…) täuscht darüber hinweg, daß Umweltkatastrophen wie die von Seveso (…) längst zur Tagesordnung gehören. (…) Ich habe keine Alternative zum sogenannten technischen Fortschritt anzubieten. Ich bin kein Technokrat und habe auch nicht vor, einer zu werden. Es ist auch nicht meine Aufgabe, sogenannte praktikable Vorschläge zu unterbreiten, für Schäden, die längst irreparabel geworden sind.
Was stattdessen seine und die Aufgabe der Literatur wie der Literaten sein könnte, beschreibt er als Kombination aus Information und engagierter Einmischung.
Alles, was ich versuchen kann ist, mit den Mitteln der Sprache Zustände zu beschreiben, die schon lange jeder Beschreibung spotten. Um diese Zustände zu verändern braucht man mehr als nur Kapital und sogenanntes technisches Know-How: man braucht Wut und vor allem Phantasie – nicht nur technische. Wir können es uns nicht länger leisten, die Zukunft den Experten zu überlassen, sonst könnten wir im Jahre 2000 die unangenehme Überraschung erleben, daß tatsächlich die Lichter ausgehen.30
Buch stellt in diesem Schlußsatz die beiden Dimensionen der Ökologiediskussion der 70er Jahre (Rohstoffknappheit/Bedrohung der Lebensgrundlagen) im Bild der ‘ausgehenden Lichter’ – Lampe und Lebenslicht – nebeneinander.
Abholzungen als Auftakt von Protesten
Nicht nur durch Brechts Gedicht waren die Bäume Thema für den frühen ökologischen Widerstand. Bezüglich Wyhl und Gorleben schildert Walter Moßmann, wie die Abholzungen bzw. Brandrodungen für die geplanten Großprojekte den konkreten Anlaß für die Aktionen bildeten:
Den Startschuß für die Platzbesetzung in Wyhl gaben die Motorsägen, die im Rheinauewald im Höchsttempo Baum um Baum umlegten. Das war ein sehr sinnfälliges Beispiel für den zerstörerischen Charakter der Atomindustrie. In Gorleben brannten (vielleicht zufällig) riesige Flächen Wald nieder, bevor die Atomindustrie bekannt gab, daß sie der Region mit einer Atom-Müll-Deponie aufhelfen will.31
Noch zu Beginn der achtziger Jahre sollte sich dieses Muster hinsichtlich des Widerstandes gegen den Bau der ‘Startbahn West’ am Frankfurter Rhein-Main-Flughafen wiederholen, als die Bürgerinitiativen zur Waldbesetzung aufriefen und der “Kahlschlag vom 28. Oktober” 1980 zur “Geburtsstunde des Dorfes im Flörsheimer Wald”32 wurde.
Ökotopia
1978 kam die deutsche Übersetzung des 1975 im Original erschienenen utopischen Romans Ökotopia von Ernest Callenbach33, der einen von den USA unabhängigen ökologischen Staat in Californien beschreibt und in der BRD von nicht geringem Einfluß auf die Ökologiebewegung war, in der Bundesrepublik auf den Markt. Ganz in der Tradition der fiktiven Reiseberichte der frühen utopischen Romane schildert er den Besuch eines amerikanischen Reporters in den seit 1980 unabhängigen Staaten im Nordwesten der USA im Jahre 1999. Ökotopia schildert einen Staat, der in vielerlei Hinsicht die Ziele der Umwelt-, Frauen sowie der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung umgesetzt hat: Demokratische Ideale einer weitestgehenden Partizipation gehen Hand in Hand mit einem grundsätzlich reformierten Bildungssystem, betrieblicher Mitbestimmung, Reduktion des motorisierten Individualverkehrs und Ausbau effizienter Systeme des öffentlichen Personennahverkehrs, Abkehr von der Petrochemie, pestizidfreier Landwirtschaft, dem Ausbau regenerativer Energien, Wiedergewinnung innerstädtischer Wohnqualität, Leben in Kommunen u.v.a.m.
Streit um Symmetrie: Die Kunert-Girnus-Debatte
In der DDR-Zeitschrift Sinn und Form führte Günter Kunert Anfang 1979 mit dem “Kulturpapst”34 Wilhelm Girnus eine Debatte über die Frage, ob volkseigene Betriebe die Umwelt weniger beschädigten als kapitalistische. Ausgehend von dem Bericht Kunerts über ein Treffen mit dem griechischen Dichter Jannis Ritsos in den späten fünziger Jahren, bei dem “die moderne Industriegesellschaft und ihre verheerenden Folgen, die sich damals symmetrisch abzuzeichnen begannen”, das Hauptthema des Gesprächs bildeten, entspann sich aufgrund der Weigerung Kunerts, in seinem Aufsatz Antäus das Wort ‘symmetrisch’ zu streichen, ein Briefwechsel, der in Sinn und Form dokumentiert wurde.
Verstehen wir Dich richtig, wenn wir annehmen, Du möchtest mit diesem Wörtchen sagen, daß Industrialisierung überall in der Welt ‘spiegelsymmetrisch’, also gleichermaßen Umweltzerstörung bedeute? Industrialisierung also gesetzmäßige Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Unabhängig von geographischen, technologischen, ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen Bedingungen? 35
Sie hatten, merkt Wolfgang Ertl in seinem Essay über Ökolyrik in der DDR süffisant an, richtig verstanden.
Zwei Monate darauf entgegnete Kunert, daß das “Ideologem” von der Umweltfreundlichkeit von “Wissenschaft und Technik in der Hand ‘fortschrittlicher’ Kräfte (…) den Wert einer Seifenblase” habe.
Es ist durch eine Realität widerlegt worden, in welcher eine volkseigene Industrie (…) ebenfalls kein reines Manna in die Flüsse und Seen leitet und nicht schieren Sauerstoff von sich gibt. Aus einem sozialistischen Automobil, so ist entgegen aller ‘wissenschaftlichen’ Weltanschauung zu fürchten, kommt das gleiche Gift wie aus einem kapitalistischen, und es richtet sich überhaupt nicht danach, wer es fährt.36
Desweiteren markierte Kunert in diesem Beitrag recht deutlich die globale Dimension der ökologischen Schäden sowie die Unvorhersehbarkeit möglicher Gefahren, die neben deren prinzipiellen Unahnbarkeit ihre Ursache in den beschwichtigenden Werbestrategien der Pharmakonzerne hatte.
Gemeint ist (…), daß unter anderem die Klimaveränderung durch Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid, mit Schwebeteilchen global wirkt und somit zum übergreifenden (…) Phänomen wird, von dem niemand sich abgrenzen kann. (…) Schlimmer jedoch, daß sich zu diesen wenig rosigen Aussichten eine spezielle Eigenschaft des Homo sapiens gesellt, die man als eine des ‘blinden Fleckes’ bezeichnen könnte. Selbst wenn man die als schädigend erkannten Insektizide und Pestizide nicht länger verwendete (…) und stattdessen neue Mittel auf die Felder brächte – wüßten wir denn eigentlich besser über deren Auswirkungen Bescheid? Erinnern wir uns der jüngsten Geschichte praktisch angewandter Chemie und ihrer anfänglich immer als absolut harmlos postulierten Erzeugnisse, (…) so ahnen wir im voraus, jedes Mittel gegen eine Lebensbedrohung berge möglicherweise eine neue Bedrohung in sich.37
Im Herbst 1979 verließ Kunert die DDR.
Der grüne Zweig
Der Roman Der grüne Zweig von Marianne Bruns ist im Kontext der kirchlichen Umweltgesprächskreise zu situieren, was sich auch an den Bezügen auf Carl Amery ablesen läßt.38
Die Rahmenhandlung ist in die Bundesrepublik verlegt, was ein deutlicheres Sprechen über ökologische Schäden ermöglichte. Die eigentliche Erzählung nimmt die biblische Geschichte von Noah und der Sintflut auf und beschreibt die Situation vor der Katastrophe, in der niemand so recht auf die Mahner hören möchte. Auf der Ebene der Rahmenhandlung ist die Noah-Geschichte ein von einem Verlagslektor zu beurteilendes Manuskript, welches auf Wunsch des Autors einem kleinen Kreis vorgestellt wird. So ist die Binnenerzählung, die von vornherein als Parabel und Gleichnis eingeführt wurde (“eine Geschichte, mit der mehr gemeint ist, als gesagt wird”39), immer wieder durch Kommentare und Anmerkungen unterbrochen, die die Bezüge zur globalen ökologischen Problematik der Gegenwart explizit herstellen.
Aber der Regen, der mit Giftstoffen und vielleicht mit Atomspuren beladen ist, fällt auch auf ihre Erde, und der Wind von derselben Beschaffenheit, bläst auch in ihre Lungen. Wir haben es eben mit globalen Problemen zu tun.40
Inwiefern diese Probleme daher nicht individuell, sondern nur in globaler Hinsicht zu lösen sind, und weshalb der Vergleich mit der Noah-Erzählung auf eben dieser Ebene unangemessen ist, wird in der Rahmenhandlung mit der Metapher des ‘Raumschiffs Erde’ erläutert: “Für unsere Probleme gibt es keine Arche, überhaupt keine Privat-Rettung. Wir sind alle in einem Boot oder Schiff. Alle im kleinen Raumschiff Erde!”41
Abgesehen von den mehr oder weniger deutlichen Anspielungen auf die innenpolitischen Probleme des Umgangs mit Umweltverschmutzung in der Binnenerzählung, die das Eigeninteresse der Machthaber, das Angewiesensein auf Devisen und die Machenschaften der Staatssicherheit andeuten, wird in der Rahmenerzählung an einer Stelle explizit die Gewässerverschmutzung der DDR benannt.
Wir, das heißt nicht nur wir in der BRD, da muß man alle Industrie-Staaten einbeziehen, wir können schon nicht mehr von Verschmutzung reden. Ein viel zu harmloser Ausdruck. (…) Die DDR schickt uns ihre versalzene (durch die Kali-Werke versalzene) Werra ins Land.42
Hubertus Knabe stellt diese Textstelle in seiner Dissertation43 in den Zusammenhang der oben erwähnten Girnus-Kunert-Debatte, in der Girnus nach seiner Schelte auf Urlauber, die in Seen urinieren und trotz Verboten moderne Waschmittel in die Gewässer einbringen, das Beispiel gelungener Renaturierung eutrophierter Seen in der Schweiz anführt:
Der Zürcher und der Vierwaldstätter See, die ich aus meiner frühesten Jugend noch als sehr oligotroph gekannt habe, waren dank Unwissen und Unvernuft eutroph oder zumindest mesotroph geworden. Dank menschlicher Vernunft gelangten sie auf den Weg der Heilung. Unsere Feldberger Seen haben ein ähnliches Schicksal erlebt. Hartnäckigkeit, Geduld, verbunden mit wissenschaftlicher Einsicht, führen sie auf den gleichen Weg wie die Schweizer Seen – so dürfen wir hoffen.44
Knabe merkt dazu an, daß die Erwiderung, die Bruns innerfiktional auf die Girnus-Kunert-Kontroverse äußern läßt, in der Realität unausgesprochen blieb.
Er habe kürzlich gelesen, erinnerte sich Batzdorf, daß man einen kleinen umgekippten See in Jugoslawien gereinigt habe. (…) Da ist es also doch gelungen! Paliƒ-See, wie? unterbrach Peters. Habe ich auch gelesen. Fünf Quadratkilometer groß, vier Meter tief. Achthunderttausend Kubikmeter vergifteter Schlamm mußten herausgebaggert werden. Es hat vier Jahre gedauert, bis er wieder sauber war, und hat viele Millionen gekostet. Und die umliegenden Werke mußten inzwischen mit Filteranlagen versehen werden. Jetzt lebt er wieder. (…) Aber wissen Sie, daß das Mittelmeer demnächst umkippt?45
Harrisburg
Die Kernteilschmelze im AKW Three Mile Island bei Harrisburg am 28.3.1979 führte der Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit eines GAU noch einmal eklatant vor Augen.
(Fußnoten Teil 2, darunter weiter mit Teil 3)
1 Schütze, Christian: Schon möglich, daß die Erde sterben muß. Anfänge öffentlicher Meinung zum Thema Umweltschutz, in: Merkur, H. 25, 1971:1, S. 470-485, S. 471
4 Nennen, Heinz-Ulrich: Ökologie im Diskurs. Zu Grundfragen der Anthropologie und Ökologie und zur Ethik der Wissenschaften, Opladen 1991, S. 82. (Kreative Zeichensetzung und Hervorhebungen im Original.)
7 Amery, Carl: Das Ende der Vorsehung, in: ders.: Die ökologische Chance, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, München 1985, S. 10f.
9 Sieferle, Rolf Peter: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 243f.
10 Enzensberger, Hans Magnus: Zur Kritik der politischen Ökologie, in: Kursbuch 33, Ökologie und Politik oder Die Zukunft der Industrialisierung, Oktober 1973, S. 1-42, S. 41
12 Pirskawetz, Lia: Umweltkritische DDR-Literatur zwischen Totalverbot und Erfolg, in: Berliner Lesezeichen 3/95, S. 23-30, S. 27
13 Moßmann, Walter: Der lange Marsch von Wyhl nach Anderswo, in: Kursbuch 50, Bürgerinitiativen / Bürgerprotest – eine neue Vierte Gewalt?, Dezember 1977, S. 1-22, S. 3
14 Goodbody, Axel: ‘Es stirbt das Land an seinen Zwecken’. Writers, the environment and the green movement in the GDR, in: German Life and letters 47:3, July 1994, 325-336, S. 331
15 Brecht, Bertold: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Frankfurt 1988, Bd. 12, S. 85
16 Kunert, Günter: Von der Schwierigkeit des Schreibens, in: Text und Kritik, Heft 46: Christa Wolf, (3., erw. Aufl. 1985) S. 12-15, S. 14
17 Vgl: Bölsche, Jochen: Der Feind im Spiegel (Weltmacht in Grün), in: DER SPIEGEL 10/99, S. 159-191
21 “Langsam dreht sich mir die Erde entgegen, die Nachtseite ist übersät mit flackernden Punkten von dumpf-roter Farbe, die Tagseite mit schwarzen Rauchsignalen.”
“Satkula? murmelte der Bewerber. Ist das etwa dieses dreckige Rinnsal, in das ich meine Abfälle schütte?” (Brzan, Jurij: Krabat oder Die Verwandlung der Welt, Berlin 1986, S. 280, 343 (Im folgenden zitiert als Krabat I)
26 Naumann, Jörg: Von der Umweltbewegung der DDR zu Greenpeace-Ost, in: Das Greenpeace-Buch, a.a.O., S. 51-63, S. 56
29 Jungk, Robert: Aus den Katakomben des Atomstaates. Ein Brief an die Nachgeborenen, sofern es sie noch gibt, in: Kursbuch 50, Bürgerinitiativen / Bürgerprotest – eine neue Vierte Gewalt? Dezember 1977, S. 139-147
30 Buch, Hans Christoph: Einleitung, in: Tintenfisch 12, Thema Natur, Oder: Warum ein Gespräch über Bäume heute kein Verbrechen mehr ist, hrsg. von dems., Berlin 1977, S. 7-12
32 Karasek, Horst: Das Dorf im Flörsheimer Wald. Eine Chronik vom alltäglichen Widerstand gegen die Startbahn West, Darmstadt / Neuwied 1981, S. 13
33 Callenbach, Ernest: Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999, Berlin 1978
34 “Schon viel früher hatte ein Literaturpapst den Kulturfunktionären drastisch gezeigt, wie sie in punkto (sic!) Umwelt zu entscheiden hatten. Wilhelm Girnus persönlich hatte Fortschrittsgegner der gefährlichsten Sorte Mensch gleichgestellt, die das DDR-Strafrecht kannte: den Verbreitern faschistischer Ideologie.” (Pirskawetz, Umweltkritische DDR-Literatur, a.a.O., S. 29)
35 Ertl, Wolfgang: Ökolyrik in der DDR. Eine Beispielreihe, in: Studies in GDR culture and society, Lanham 1985, S. 221-235, S. 221
36 Anläßlich Ritsos. Ein Briefwechsel zwischen Günter Kunert und Wilhelm Girnus, in: Sinn und Form 4/79, S. 851-864, S. 850
38 “Ein Gesichtspunkt, unter dem Carl Amery den manischen Größenwahn betrachtet, in den wir hineingeraten sind: Die Erde – unerschöpflich. Und wir – von Gott ermächtigt, sogar beauftragt! uns rücksichtslos und bedenkenlos anzueignen, was wir wollen. Inzwischen wissen wir, daß sie nicht unerschöpflich ist und daß wir Raubbau trieben, aber wir kümmern uns nicht darum.” (Bruns, Marianne: Der grüne Zweig, Halle / Leipzig 1979, S. 102f.)
45 Bruns, Der grüne Zweig, a.a.O., S. 81
Die achtziger Jahre
DIE GRÜNEN, kirchliche ökologische Arbeitskreise und die GNU
Zur Teilnahme an der Europawahl 1979 gründete sich die ‘Sonstige politischen Vereinigung DIE GRÜNEN’, deren 3. Kongreß sich am 12. und 13. Januar 1980 als Gründungsversammlung der Bundespartei DIE GRÜNEN konstituiert. Die erste Plenarsitzung wurde von Herbert Gruhl eröffnet, der mit Baldur Springmann die Partei nach 1/2 Jahr verlassen wird, weil seine nationalökologischen Interessen nicht genügend Berücksichtigung gefunden hatten. Am Podium begegnet der gerade erst aus der DDR ausgereiste Rudolf Bahro Baldur Springmann, umarmt ihn und erklärt seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit, da er die Aufgabe einer grünen Partei in der Zusammenführung der heterogenen Strömungen zu einem “Nicht rechts, nicht links, sondern vorn” versteht.1
Im April 1980 gründete sich in der Kreuz-Kirche in Dresden der ökologische Arbeitskreis der Dresdner Kirchbezirke.
Ob die Gründung der offiziellen ‘Gesellschaft für Natur und Umwelt’ im Kulturbund der DDR als direkte Reaktion auf die kirchlichen Gesprächskreise zu verstehen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Axel Goodbody stellt es zumindest in diesem Licht dar:
The ‘offene Arbeit’ of the ‘Evangelische Kirche’, which provided a unique forum for frank discussion, gained such popularity, particularly in the south of the GDR, that a new official ecological association was founded in 1980, the ‘Gesellschaft für Natur und Umwelt’ (GNU). (…) The majority of its initial members were environmental activists dissatisfied with the inefectiveness of the long-standing ‘Natur- und Heimatfreunde’ section of the Kulturbund.2
In einer Dokumentation über die GNU heißt es dagegen:
Die GNU im Kulturbund der DDR wurde 1980 ‘von oben’ gegründet. (…) Hintergründe für die (…) Gründung waren u.a.: die politische Reaktion auf die zunehmende Rolle der durch die industrielle Entwicklung forcierten Umweltprobleme analog zu Entwicklungen in westlichen Industrieländern; die Reaktion auf die Wahlerfolge der GRÜNEN in der BRD; die notwendig gewordene Gründung einer Natur- und Umweltschutzorganisation, die entsprechend autorisiert mit ähnlichen Organisationen im sozialistischen und kapitalistischen Ausland Kontakte aufnehmen und entwickeln konnte; das Ziel, über den klassischen Naturschutz hinausgehende umweltpolitische Aktivitäten zu kanalisieren und eine der westlichen grünen Bewegung adäquate Organisation zu schaffen; das zunehmende Interesse der Bevölkerung an aktivem Natur- und Umweltschutz; ein innerer Strukturwandel durch die Verselbständigung der Heimatgeschichte (1978) und der Denkmalpflege (1975) zu eigenständigen Fachgesellschaften und durch die erhebliche Erweiterung des Aufgabenfeldes um den Umweltschutz.
Doch wird diese ‘offizielle Lesart’ in derselben – 1993 verfaßten (!) – Dokumentation von der vorsichtig als Zitat gekennzeichneten ‘oppositionellen’ konterkariert:
Wie die GNU-Gründung von jüngeren Mitgliedern eingeschätzt wurde, zeigen Äußerungen eines Berliner Kreisvorsitzenden der GNU im Jahre 1990: ‘Eine Bildung von Umweltgruppen begann (…) unter dem Dach der Kirche. Es entstanden zunächst einzelne Gruppen und später das Grüne Netzwerk ‘Arche’, sowie Einrichtungen wie die Umweltbibliothek. Das bereits in den 20er Jahren von Ornithologen gegründete kirchliche Forschungsinstitut in Wittenberg war einer der zentralen Anlaufpunkte und Multiplikator der oppositionellen Bewegung. Da diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten war, wollte man sie durch die Gründung der Gesellschaft für Natur und Umwelt im Kulturbund der DDR per Ministerratsbeschluß kanalisieren und somit besser lenken können. Das gelang aber nur mit wenig Erfolg (…).’3
Die Enkel der Raketenbauer
Der satirische Science-Fiction-Roman Die Enkel der Raketenbauer von Georg Zauner4 erschien gleichfalls 1980. Er spielt in einer ökologisch orientierten Gesellschaft der fernen Zukunft, in der Dokumente aus einer post-katastrophalen, mittelalterlich organisierten, abergläubischen und wundergläubigen theokratischen Vergangenheit von der durch Rohstoffmangel motivierten Ausbeutung der Eisenvorkommen in den ehemaligen Münchner U-Bahn-Schächten berichten.
Freie Republik Wendland
Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Endlagerstätte in Gorleben besetzten ca. 3000 Atomkraftgegner am 3. Mai 1980 die Tiefbohrstelle 1004 und gründeten das Hüttendorf ‘Freie Republik Wendland’, das am 4. Juni von der Polizei gewaltsam geräumt wurde.
Lornac ist überall
In seinem Jugendroman Lornac ist überall schildert der Schweizer Autor Otto Steiger die Verseuchung der bretonischen Küste durch das Tankerunglück der ‘Amoco Cadiz’ von 1978. Der 1980 Titel stellt eine Anlehnung an den Koch-Vahrenholt-Titel Seveso ist überall dar.
Flugasche
Monika Marons bereits 1978 fertiggestellter Roman Flugasche5 erschien 1981 in der Bundesrepublik, da sein Druck in der DDR nicht genehmigt wurde.
Die Protagonistin Josefa Nadler soll eine Reportage über B.(itterfeld) schreiben, weiß aber genau, daß die Wahrheit über B. nicht gedruckt würde.
B. ist die schmutzigste Stadt Europas. (…) Die dreckigste europäische Stadt ausgerechnet in einem sozialistischen Land. Wenn wir uns schon die traurige Tatsache leisten, so wenigstens nicht ihre öffentliche Bekanntmachung. (…) Damit lieferst du dem Gegner die Argumente.6
Vor über 100 Jahren gebaut, entspricht das alte Kohlekraftwerk, das dem Chemie-Kombinat Bitterfeld die Energie liefert, nicht gerade dem neuesten Stand an Arbeitssicherheit und Filtertechnik. Ein neues ist im Bau, doch soll das alte aus unerfindlichen Gründen in Betrieb bleiben, obwohl den Bewohnern von B. “jeden Tag (…) Güterzüge voll Dreck (…) auf den Kopf rieseln”7.
Josefa Nadler versucht dennoch, eine unverblümte Reportage durchzusetzen, scheitert aber daran, da offensichtlich die ‘zuständigen Genossen’ davon ausgehen, “180 Tonnen Flugasche wögen auf Zeitungspapier schwerer als auf der Haut”8. So schreibt sie letztendlich einen Brief an den Höchsten Rat, um auf die Problematik aufmerksam zu machen, was zu ihrem Ausschluß aus der Partei führt. Hinsichtlich der Lebenssituation der Bürger von B.war ihre Intervention nichtsdestotrotz erfolgreich (sprich: das alte Kraftwerk wird stillgelegt), was den Zynismus der Situation in ganzer Schärfe deutlich werden läßt.
Am gleichen Tag (…) beschloß der Höchste Rat in einer nachmittäglichen Beratung, das alte Kraftwerk in B. unter Berücksichtigung der Gesundheit der Bürger von B. und unter Nichtberücksichtigung kurzfristiger volkswirtschaftlicher Vorteile stillzulegen.9
Der emotionale Resonanzraum des ‘Waldsterbens’
Im November 1981 machte der SPIEGEL in einer dreiteiligen Serie das ‘Waldsterben’ bekannt, dessen Debatte Brüggemeier als Wende in der Ökologiebewegung beschreibt:
Zum ersten Mal wurde der Öffentlichkeit bewußt, wie großflächig Umweltschäden auftreten konnten, wie komplex die Zusammenhänge waren und wie wenig nationale Grenzen eine Rolle spielten. Die Umweltdebatte hatte eine neue Dimension erreicht.10
Anläßlich des Brechtschen Gedichts An die Nachgeborenen war in den Kreisen der Linken in Ost und West derart lange über Bäume geredet worden, daß das Waldsterben diskurstechnisch im Grunde wie gerufen kam. Der emotionale Resonanzraum des Waldsterbens, das m.E. das zentrale und öffentlichkeitswirksamste Konzept der Umweltbewegung in den Achtzigern war, läßt sich nur zum Teil durch die vielzitierte angebliche ‘romantische’ Beziehung der Deutschen zum deutschen (Märchen-)Wald erklären. Ich habe in den vorhergehenden Passagen versucht, einige der Resonanzräume aufzuzeigen, die, wie mir scheint, alle von den Bildern der entlaubten Bäume angestoßen werden. Da wäre einmal der seit Erich Frieds Gedicht Gespräch über Bäume explizit hergestellte Bezug zum Vietnam-Krieg und dem amerikanischen Einsatz des Entlaubungsmittels ‘Agent Orange’, der neben dem Wissen um die Ungeheuerlichkeit der Entlaubung riesiger Flächen tropischen Regenwaldes aus militärstrategischen Gründen auch das Wissen um die Opfer der Vergiftung durch das im Entlaubungsmittel enthaltene Dioxin unter der Zivilbevölkerung wachruft. Daneben haben die Texte aus den Anfängen der Umweltbewegung die Dringlichkeit ökologischen Umdenkens einerseits dadurch untermalt, daß sie die Umweltzerstörung als ‘Krieg im Frieden’ darstellte, andererseits wurde seit Seveso auf die Möglichkeit von Störfällen der chemischen Industrie die Gefährdung der Bevölkerung mit dem Gestus einer ‘Kriegsführung gegen die eigene Bevölkerung’ hingewiesen. So schien nun – aus der Perspektive des Resonanzraums der Bildelemente – der Vietnamkrieg mit den entlaubten Bäumen und den durch Dioxin vergifteten Menschen in Europa angekommen zu sein. Außerdem bildete das Bild der toten Bäume eine Einlaßstelle für die Metapher der Umweltzerstörung als ‘Krieg gegen die Natur’.
Inwieweit durch Aktionen der Umweltbewegung bewußt an vorhandene Bilder angeknüpft wurde, um die Problematik des Waldsterbens auch ins Bewußtsein einer noch nicht für ökologische Probleme sensibilisierten Öffentlichkeit zu rücken, zeigt folgendes Beispiel, das mit dem positiv besetzten Symbol des Christbaums spielt: Eine Greenpeace-Aktion nutzte 1982 ganz bewußt die Interferenz zwischen dem Bild des im Winter grünen Tannenbaums als traditionellem Symbol des Weihnachtsfestes und dem Bild entnadelter Tannen in einer vorweihnachtlichen Einkaufspassage:
Als wir 1982 unseren ersten Christbaumstand gemacht haben – das war eine Idee der Münchner Greenpeace-Gruppe, wir haben Christbäume angeboten, die fürchterlich aussahen -, da hat eben noch ein großer Teil der Passanten gesagt: Ihr spinnt wohl, Waldsterben gibt es nicht! Zwei Jahre später haben es fast alle akzeptiert und auch gewußt, daß Waldsterben eine Realität ist. Es war keine Provokation mehr, Tannenbäume anzubieten, die gelbe Nadeln oder gar keine mehr hatten. Beim ersten Mal dagegen schon. Um unseren Stand wochenlang in der Fußgängerzone aufstellen zu dürfen, sind wir als reiner Gewerbestand aufgetreten und haben unsere entnadelten Bäume vorschriftsmäßig mit Preisen versehen, damit es keinen Vorwand gab, unseren Stand zu schließen.11
Fischsterben in der Ostsee
Im Winter 1981/1982 unterstützten Nachrichten über das Fischsterben in der Ostsee aufgrund von Sauerstoffmangel das Bild von der sterbenden Natur.
Brodowiner Gespräche
In der DDR organisierte der Schriftsteller Reimar Gilsenbach seit 1981 jährliche Treffen von Künstlern, Naturschützern und Wissenschaftlern, um den Informationsfluß hinsichtlich der Umweltsituation zu gewährleisten. Diese nach Gilsenbachs Wohnort benannten ‘Brodowiner Gespräche’ wurden von der Gesellschaft für Natur und Umwelt (GNU) unterstützt, da der Schriftstellerverband dazu nicht bereit war.12 Lia Pirskawetz, die Leiterin des aus den Brodowiner Gesprächen hervorgegangenen und heute bundesweit bestehenden Arbeitskreises ‘Literatur um Welt’, schildert die Anfänge folgendermaßen:
1981 hat der Schriftsteller Reimar Gilsenbach den Arbeitskreis in seinem Haus in Brodowin (heute Ökodorf im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin) begründet. Da der Schriftstellerverband der DDR – auf Geheiß von Kurt Hager, wie wir heute wissen – bis 1987 die Schirmherrschaft verweigerte, übernahm sie die Gesellschaft für Natur und Umwelt. Mit viel Fingerspitzengefühl organisierte und verteidigte der Kulturwissenschaftler Dr. Rolf Caspar unsere alljährlichen Dreitagestreffen in Umweltkatastrophengebieten wie dem Osterzgebirge, dem Senftenberger Braunkohlerevier und der Boddenlandschaft. Dabei gerieten die Schriftsteller in einen produktiven Streit mit Naturwissenschaftlern und Funktionären, mit Opportunisten und Wachstumsfetischisten, mit kämpferischen und verprellten Forst- und Wasserwirtschaftlern, Biologen und Umweltmedizinern, vor allem aber mit bedeutenden Naturschützern und Landschaftsvordenkern wie Prof. Dr. Michael Succow und Dr. Leberecht Jeschke. Wenn es letzteren in den wenigen Monaten zwischen Honneckers Sturz und Einheitsvertrag gelang, in einer beispiellosen Anstrengung elf große Landschaften Ostdeutschlands als Nationalparks und Biosphärenreservate vorm Zugriff der Marktwirtschaft zu retten (…), dann nur, weil alles über ein Jahrzehnt vorbedacht worden war.13
Boehringer und Friedemann Grün
1981 ist das Jahr der ersten Schornsteinbesetzung durch die Greenpeace-Aktivisten Harald Zindler und Peter Krichel, die am 25. Juni 26 Stunden lang den Schornstein der Hamburger Boehringer-Werke besetzt hielten. Sie entrollten ein Plakat mit dem bekannten Greenpeace-Spruch: “Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluß vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, daß man Geld nicht essen kann.” Die Greenpeacer hatten sich unter dem Firmennamen ‘Friedemann Grün’ getarnt und somit die Möglichkeit erhalten, mit einem Pritschenwagen auf das Gelände der Firma Boehringer zu gelangen.
Nach dem großen Glitch
Zu den bemerkenswerten bundesrepublikanischen Erzähltexten der frühen Achtziger gehört das Jugendbuch Nach dem großen Glitch von Arnulf Zitelmann14, das in einer mehrfach gespiegelten Utopie verschiedenste Lebensentwürfe und Gesellschaftssysteme einander gegenüberstellt: Nach einem Meteoriteneinschlag, der die Folgen des Treibhauseffekts potenzierte, ist Europa weitestgehend zerstört. Eine neue hochindustrielle Kultur hat sich in Südafrika entwickelt, wo ein System der technischen Beherrschung der Welt mit der völligen Bevormundung des einzelnen durch “das Werk”, den Staat, einhergeht. Im Ruhrtalwatt erleiden zwei Werksangehörige Schiffbruch und beschreiben nun aus der Sicht der zivilisierten Südafrikaner die ‘primitiven’ Wilden Mitteleuropas, die “Buschis”. Auf ihren Wanderungen lernen sie verschiedenste ‘alternative’ Lebensentwürfe kennen, die sich in ihren Sozialformen, ihrer Ästhetik und dem Umgang mit Rohstoffen voneinander unterscheiden und vor dem Hintergrund der bundesdeutschen Alternativ- und Ökologiebewegung zu lesen sind. In einem Nachwort wird der Bericht der Schiffbrüchigen innerfiktional als ‘Fiktion’ entlarvt, die als solche jedoch Sprengkraft für die Infragestellung des südafrikanischen fortschrittsgläubigen repressiven Superstaates haben kann.
Swantow
Eine Sonderstellung kommt der Tagebucherzählung Swantow von Hanns Cibulka zu, weil sie der einzige Erzähltext ist, der zu DDR-Zeiten die Gefahren der Atomenergie und der Niedrigstrahlung eines AKW im Normalbetrieb thematisierte. Lia Pirskawetz schreibt darüber:
Vor der Kernkraftnutzung hatte vor Tschernobyl nur Hanns Cibulka in ‘Swantow’ (1982) gewarnt. Aus den Zwangsänderungen zwischen Zeitschriften- und Buchfassung ist ablesbar, daß dieses Thema eines der höchst tabuierten war. Es wurde noch weniger reflektiert als die Problematik des Waldsterbens und des Uranbergbaus.15
Ein Vorabdruck erschien im April 1981 in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur. In der ausführlicheren Buchfassung waren die ‘heiklen’ Passagen jedoch durch unverfänglicher scheinende ersetzt worden.
In der NDL-Version beschreibt der Ich-Erzähler, daß ihn die Frage nach dem Kuppelbau der Atomkraftwerke seit Tagen beschäftigt, da es für diese Form keinerlei technische Notwendigkeit gebe,16 und überlegt, ob sich darin möglicherweise “uralte Tabus” andeuteten: “Es scheint, als umschließe auch heute noch der Rundbau, die Kuppel aus meterdickem Beton, ein Geheimnis, ein bedenkliches Geheimnis.”17 Im anschließenden Absatz zitiert er unvermittelt aus einer technischen Abhandlung, die die Gefahren der Niedrigstrahlung extrapoliert:
Im Normalbetrieb eines Atomkraftwerkes wird die Bevölkerung vor allen Dingen mit Strahlen im niedrigen Dosisbereich belastet. (…) Der zeitliche Abstand zwischen der Bestrahlung und dem sichtbaren Schaden kann viele Jahre betragen. Bei Erbschäden beträgt die Latenzzeit oft mehrere Generationen. (…) Zum Beispiel kann Strontium völlig unbemerkt vom Organismus aufgenommen und gespeichert werden. Es gibt praktisch keine Möglichkeit, seine Existenz im lebenden Körper festzustellen und nachzuweisen. Die Verseuchung erfolgt im meßtechnischen Dunkel. Falsch ist der Schluß: Was ich nicht messen kann, ist ungefährlich.18
In der Buchfassung wurde die gesamte Passage gestrichen und durch folgende, nicht weniger brisante, ersetzt, die allerdings auf der expliziten Ebene die Umweltgefahren der DDR nicht thematisiert.
Eine bedenkliche Nachricht, sage ich, die Gda½sker Bucht ist biologisch umgekippt. Die polnische Regierung hat das Baden verboten, auch das Betreten des Strandes ist untersagt. (…) Er schreibt, daß auch die Buchten von Szczecin und Lübeck durch Eutrophierung bedroht sind.19
Daß zwischen Lübeck und Szczecin ein weiteres Stück Ostseeküste liegt, das vermutlich keine Ausnahme darstellt, dürfte jedem Leser deutlich gewesen sein.
In der Buchfassung gibt es stattdessen an anderer Stelle einen konkreten Bezug auf das Kernkraftwerk Lubmin:
In Lubmin gibt es keinen Stausee, keine Sperrmauer, durch die das Wasser in die Turbinen schießt. (…) In einem Kernkraftwerk ist alles still, totenstill, die Energie wird lautlos produziert, der Verbrennungsprozeß dominiert. Wissen, was nicht zu sehen ist.20
Auch dieser Passage wird ein Zitat aus einer Abhandlung über Kernenergie nachgestellt, das jedoch ‘nur’ über die Halbwertzeiten verschiedener Spaltprodukte Auskunft gibt. In der Thematisierung des “Ungesagten” scheint der Ich-Erzähler die Tatsache der Zensur mitzudenken und beim Leser als mitgedacht ansprechen zu wollen. Die zentrale Passage, die unter dem Datum des 6. August, des Jahrestages von Hiroshima, eingetragen ist und auf die sich auch Christa Wolf in Störfall anspielend bezieht, lautet in der Zeitschriftenversion:
Genügt es, wenn wir immer nur bis an den Rand des Blattes schreiben? Das weiße Blatt (Papier) hinter sich lassen, über den Rand hinaus schreiben, auch das Ungesagte hörbar machen. Im Ungesagten vollzieht sich das Schreckliche, das Unerträgliche unserer Zeit.21
In der Buchfassung wurden dieser Stelle noch folgende Passagen nachgestellt:
Wer schreiben will, muß in seiner Zeit stehen, er muß aber auch die Kraft haben, wenn es not tut, gegen sie zu leben. Vielleicht ist Swantow nichts anderes als der erneute Versuch, den verborgenen Wahrheiten des Lebens auf die Spur zu kommen.22
Was an dieser Stelle ‘verschwunden’ ist, ist ein nochmaliger Hinweis auf die Möglichkeit der “radioaktive(n) Verseuchung der Umgebung” von Atomkraftwerken sowie die Darstellung der Umweltbelastungen durch auf fossilen Brennstoffen basierenden Wärmekraftwerken, “insbesondere bei (…) Kohle und Erdöl mit hohem Schwefelgehalt”23, was auf die DDR-Braunkohle zutraf.
Insgesamt drängt sich beim Vergleich der beiden Versionen der Eindruck auf, als habe Cibulka quasi als ‘Preis’ für die Streichungen hinsichtlich der Tabus bezüglich der Atomkraftwerke eine Offenheit ausgehandelt, die ihm fast alle anderen Umweltthemen anzusprechen erlaubte. So gibt es in der Buchfassung einige Passagen, die deutlich schärfer klingen als die in der NDL-Version, wie beispielsweise diese: “Der Doktor hat uns gestern einen Fisch gezeigt, den man unweit von Zudar gefangen hat. Seine Rückenflosse war verkrüppelt, an der Bauchseite hatte er ein Karzinom.”24
Im Rahmen eines ausholenden Berichtes über den katastrophalen Zustand der Weltmeere gelangt er zu den Binnengewässern, deren Thematisierung wieder wie eine Anspielung an die Kunert-Girnus-Debatte über die ‘Symmetrie’ der Umweltkrise in Ost und West klingt:
Haben wir vergessen, daß auch die Flüsse und Seen atmen und leben? Aber ihre Wasser riechen schon lange nicht mehr nach Wasser, ich kenne Flüsse, die stinken wie eine Abdeckerei; der Zürichsee, der Balaton, aber auch der Tegernsee sind lange schon tot oder am Sterben. Wer heute auf die Selbstreinigung der Gewässer hofft, ist ein Narr.25
Veröffentlichungsverbot von Umweltdaten in der DDR
Am 16. November 1982 reagierte die DDR-Regierung wie gewohnt restriktiv auf die Umweltdiskussion: Umweltdaten unterlagen von nun an der Geheimhaltung. Lia Pirskawetz schildert die Zusammenhänge retrospektiv folgendermaßen:
1982 erließ der Ministerrat ein Gesetz zur Umweltdatengeheimhaltung. Der Wortlaut selbst blieb geheim und wurde – wie alles Geheimnisvolle – von den Entscheidungsträgern mehr gefürchtet als notwendig. Deshalb würgten sie vorsichtshalber ab, was bei genauer Betrachtung der Paragraphen gar nicht gemeint war. Das Gesetz bezog sich ausschließlich auf wissenschaftliche Daten. So konnte es auch kommen, daß sich ein Funktionär im Umwelterziehungsbereich als Oberzensor etablierte. (…) Nicht alle Ministerien ließen sich seine Dreinrederei gefallen. Auf Grund von Schriftstellerprotesten in Berlin, (…) gab Klaus Höpcke namens seines Kulturministeriums das Versprechen ab, daß kein Werk aus seinem Kompetenzbereich diesem Zensor vorgelegt werden solle.26
Der Dormagener Störfall
Ganz im Sinne der post-desaster-Literatur beschreibt der bundesdeutsche Autor Klas Ewert Everwyn in Der Dormagener Störfall von 199627 einen Störfall im Bayer-Werk, der den gesamten linken Niederrhein auf Jahrhunderte verwüstet und nun aus einer fernen Zukunft anhand von aufgefundenen Dokumenten rekonstruiert wird.
Der Prozeß, den das Bayer-Werk gegen den Autor angestrengt hatte, um die Veröffentlichung des Romans zu verhindern, endete im April 1983 mit einem Vergleich, der den Autor verpflichtete, folgende Erklärung “auf der inneren Titelseite oder dem Frontblatt des Druckwerks” anzubringen:
Mit diesem Buch habe ich mein Unbehagen gegenüber der Chemie ausdrücken wollen. Da es sich um ein Auftragswerk der Stadt Dormagen handelt, war es für mich zwingend, das dort ansässige große Chemiewerk für meine Legende heranzuholen. Ich will weder das Werk noch seine Menschen diffamieren. Die Wiedergabe von Vorgängen aus der Vergangenheit erhebt keine Anspruch auf Richtigkeit und dokumentarische Genauigkeit und soll insbesondere nicht bedeuten, daß die angenommenen Störfälle von 1984 und 1996 sich zwangsläufig aus dem gegenwärtigen Stand der Produktionsabläufe entwickeln müssen. Ich habe nach Erscheinen der ersten Auflage des Buches erkennen müssen, daß ich ohne Absicht Empfindlichkeiten der Werksangehörigen getroffen habe. Aus diesem Grund ist es mir nicht schwer gefallen, in den weiteren Auflagen den Namen ‘Bayer’ durch den Begriff ‘das Werk’ zu ersetzen.28
Der Bezug auf das ortsansässige Chemiewerk ist so oder so eindeutig. Bemerkenswert – wenn auch nicht überraschend – ist der Umstand, daß der Konzern versuchte, die Veröffentlichung des Textes zu unterbinden.
Bei Hamburg leichter Niederschlag
1982, also drei Jahre nach dem Reaktorunglück in Harrisburg, erschien Bei Hamburg leichter Niederschlag29 von Heinz Knappe. Der Text erzählt von einem fiktiven, durch ein Kind unbeabsichtigt ausgelösten Störfall in einem Kernkraftwerk bei Hamburg.
Das Windrad
Peter Härtlings Roman Das Windrad, in dem ein Künstler und Erfinder ein Windrad errichten möchte und dabei in Konflikt mit lokalen Behörden und dem Staatsapparat gerät, atmet den Zeitgeist der frühen Auseinandersetzungen um die Energiegewinnung. Doch geht es hier nicht um die Bürgerinitiative, die gegen AKWs protestiert, sondern es ist der Staat, der dezentrale alternative Energiegewinnung zu verhindern sucht. Gleichzeitig wird auch deutlich, in welchem Maße diese Auseinandersetzung Symbolwert besitzt und innerfiktional von vielen als Projektionsfläche für ihre eigenen Träume, Ziele, Wünsche und Utopien genutzt wird:
Aus allen Windrichtungen kamen Junge und Alte, jeder hatte auf seine Weise das Ausrufezeichen Kannabichs verstanden als eines, das die Vergangenheit als bessere Zukunft ausruft, oder als eines, das sich vor der Gegenwart nicht fürchtet, aber auf eine menschenfreundlichere Zukunft weist. Oder als eines, das sich erst einmal gegen alles wendet, gegen die Technik, die Macht der Großen und der Bürokraten, gegen die massenmordenden Waffen – ein Ausrufezeichen, das sie von Plakaten und aus Flugblättern kannten. In Kannabichs Vorstellung glich sein Bauwerk jedoch eher einem Leuchtturm über einer Gegend, in der der Mensch zögernd, sich prüfend, bei sich bleibend, von neuem zu existieren beginnt. (…) Vielleicht übertrug sich die Hoffnung auf eine menschenfreundlichere Zukunft wie ein Virus, vielleicht leuchtete das Windrad als Symbol ein (…).30
Es geht bei diesem Protest für das Windrad um mehr als nur die Erhaltung einer dezentralen Einrichtung zur Gewinnung regenerativer Energie, nämlich um die Erhaltung der Zukunft, den Widerstand gegen den selbstmörderischen Kurs der Menschheit:
Es sind doch die, die euch tüchtigen Selbstmördern in die Arme fallen, die euch und euren Kindern ein Fortleben wünschen, die nicht unter einem vergifteten Himmel ersticken, auf einer verödeten Erde verkommen wollen.31
Die Windmetapher umfaßt im Roman mehrere Ebenen: Neben der Frage der Energiegewinnung geht es auch um eine Neuorientierung der Lebens – des einzelnen als auch der Gesellschaft -, um neue Entwürfe und um den Mut, alte Gewohnheiten zu verlassen und neue Wege zu gehen, sich vom Wind tragen lassen. Die Ikarus-Figur erhält fiktionsintern eine neue Lesart: “Nicht die Sonne hatte ihm die Schwingen verbrannt, sondern die Erde hatte ihn zurückgeholt.”32 Wer sich vom Wind tragen läßt, so könnte man die Passage lesen, kommt dadurch vielleicht der Erde näher. Oder: Wer auf Windkraft setzt, kann die verlorene Harmonie mit der Natur vielleicht wiederherstellen.
Amanda
Als zweiten Band ihrer geplanten Trilogie legte die DDR-Schriftstellerin Irmtraud Morgner 1983 Amanda. Ein Hexenroman vor. Die handlungstragende Problematik stellt eine Gemengelage aus feministischen, friedensbewegten und ökologischen Aspekten dar, so daß nicht von einem ‘reinen’ Umweltroman gesprochen werden kann. Die Betonung der ökologischen Zusammenhänge im Text rechtfertigt jedoch unbedingt seine Erwähnung im vorliegenden Kontext.
(…) daß mich der Anblick des Mittelmeeres aus großer Höhe schon in Verzweiflung stürzte. Seine Ufer von Betonbauten entstellt. Seine Orte mit buntem Blech vollgestopft. Mein scharfes Auge, das Wassern auf den Grund sehen konnte, mußte erkennen, daß die Meeresfauna in großen Regionen verkümmert oder verschwunden war. Versteppter Meeresgrund. Schlammwüste, wo früher Fischschwärme zwischen den bizarren Gebilden der Korallen, Fächeralgen und Medusen wimmelten. Die Fischer klagten, daß sie schon oft ohne Fang zurückkehrten. Und sie machten die Abwässer der etwa dreihundert Millionen Menschen – direkt oder über Flüsse in die See geleitet – für das Sterben des Mittelmeeres verantwortlich. Auch den enormen Schiffsverkehr, die Urlaubermassen und die Tanker, die ihre Laderäume mit Meerwasser spülten. (…) Und was dem Mittelmeer jetzt geschähe, würde bald auch den Ozeanen passieren, wenn die Menschheit ihre Reichtümer nicht bald weltweit verantwortungsvollen Regierungen anvertraue (…)33
In einem großen Entwurf setzt Morgner antike (in ihrer klassischen und romantischen Bearbeitung) und germanische Mythen sowie biblische Stoffe einander gegenüber, läßt Faust, Prometheus, Pandora, Venus, Gaja, Sirenen, Adam, Lilith, Hexen und Teufel als ‘Einbruch des Wunderbaren’ in Anspielungen und Bezügen auf Goethe, E.T.A. Hoffmann, Heine und H. Bosch in den Alltag der DDR einfallen und die Geschichte(n) aus Frauensicht schreiben. In Anspielung auf die 11. Feuerbach-These von Marx eröffnet eine Hexe im Text ihre Rede mit den Worten: “Die Philosophen haben die Welt bisher nur männlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich verändern zu können.”34 In diesem Sinne postuliert auch Arke, eine Gajatochter:
Nur wenn die Männer und die von Männern geführten progressiven Regierungen erkennen, daß sie die Probleme der Weltpolitik und der Ökologie und ihre eigenen ohne gewisse Fähigkeiten und Tugenden der Frauen nicht bewältigen und entsprechend handeln, kann der Planet gerettet werden.35
Bergersdorf ist überall
In seinem Roman Bergersdorf ist überall36 erzählt Wolfgang Kammer die Geschichte eines Arbeiters, der einen Umweltskandal in seiner Firma aufdeckt und deswegen seinen Arbeitsplatz verliert. Der Titel spielt deutlich auf Seveso ist überall an, was der Autor in einem Nachwort expliziert, indem er darauf hinweist, daß zur Zeit der Beendigung des Manuskripts in Europa fieberhaft nach den 41 verschwundenen Fässern mit dem Seveso-Gift gefahndet werde. Die Fässer tauchten am 19.5.1983 auf einem alten Schlachthof in Frankreich auf und wurden nach offiziellen Angaben von Ciba-Geigy ordnungsgemäß vernichtet, möglicherweise jedoch stattdessen (gegen Devisen) auf die Sondermülldeponie Schönberg (DDR) verbracht.37
Wo die grünen Ameisen träumen
Werner Herzogs Film Wo die grünen Ameisen träumen, der auch als Filmerzählung vorliegt, spielt in Australien und handelt von den Auseinandersetzungen zwischen einer Mining-Company und australischen Ureinwohnern, denen einer der Orte, an denen die Firma Tests durchführt, heilig ist:
Was würden Sie sagen, wenn wir mit Bulldozern und Preßlufthämmern in Rom in die Peterskirche kämen und anfingen zu graben? (…) Wir besitzen das Land nicht, das Land besitzt uns. (…) Unser eigenes Spiritland liegt weiter im Norden, aber dennoch ist die ganze Erde eine Mutter, es ist ein einziger großer Körper, und wir sind Teil davon. 38
Die Aborigines werden in Herzogs Filmerzählung keinesfalls als ‘Umweltengel’ (Bargatzky) dargestellt, doch relativiert ihr Blick auf die Industriegesellschaften das hiesige Naturverhältnis und entlarvt es als ein entfremdetes und ausbeuterisches.
Der Kirschbaum
Die Novelle Der Kirschbaum des sorbischen Schriftstellers Jurij Koch erschien 1984 in der DDR und schildert den ‘Kampf’ zwischen Mensch und Natur symbolisch als ‘Eroberung’ der Liebe einer traditionsgebundenen sorbischen Bäuerin durch einen Techniker. Letzten Endes erliegt der Techniker der Tatsache, daß er die Wünsche und Gefühle seiner Gattin nie angemessen berücksichtigt hat. In dieser gleichnishaften Erzählung stehen sich einerseits Weiblichkeit, Land, Erde, Mutterboden, (sorbische) Tradition und andererseits Technik, Geschwindigkeitsrausch, Eroberungswille, Brutalität, Rücksichtslosigkeit, Egozentrik diametral gegenüber.39
Greenpeace und die Schornsteine
Die Umweltorganisation Greenpeace, die immer mehr zum Vorreiter der Umweltbewegung wird, startet ihre Aktion gegen den sauren Regen im April 1984 mit parallelen Schornsteinbesetzungen in Belgien, der BRD, Dänemark, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und der Tschechoslowakei. Im August erklommen die Greenpeacer am Kohlekraftwerk Buschhaus den höchsten Abgasschlot Europas (307 m). Die Klettertechnik lernten die Hamburger von der bayrischen Biologiestudentin Barbara Fruth. Durch die Medienwirksamkeit solcher Aktionen wurde das Bild der schornsteinkletternden Frauen40 etabliert, das später wiederholt in umweltorientierter fiktionaler Literatur zu finden sein wird.
Bhopal
1984 ereignete sich in der indischen Stadt Bhopal im Bundesstaat Madhya Pradesh ein Giftgasunglück in einer Pestizidfabrik der US-amerikanischen ‘Union Carbide’, bei dem es nach der Freisetzung von Methylisocyanat, Phosgen und Nitrosegasen mehrere tausend Tote und mehrere zehntausend Schwerverletzte gab. Die durch Seveso sensibilisierte Öffentlichkeit realisierte dadurch noch einmal mehr die mit der chemischen Industrie verbundenen Gefahrenpotentiale.
Boehringer und Dioxin
Das Pestizide produzierende Boehringer-Werk in Hamburg-Moorfleet, das bereits 1981 Schauplatz der ersten Schornsteinbesteigung der Greenpeacer alias ‘Friedemann Grün’ war, mußte 1984 aufgrund behördlicher Auflagen schließen, da es in den 30 Produktionsjahren schwere Gesundheits- und Umweltschäden durch Dioxine verursacht hatte. Sowohl auf Mülldeponien, im Moorfleeter Kanal als auch auf dem Werksgelände waren Dioxinkonzentrationen bis zu Werten gefunden worden, die denen in der B-Zone in Seveso vergleichbar waren. Im Korridor der Hauptwindrichtung des Boehringer-Werkes trat eine Häufung schwerer spezifischer Kindesmißbildungen auf, über die das Fernsehmagazin ‘Monitor’ im Frühjahr 1984 berichtet hatte. So konstatierten die Autoren des Buches Dioxin – die chemische Zeitbombe vermutlich zu recht: “In der bundesdeutschen Öffentlichkeit sind Sevesogift und Boehringer 1984 zum Synonym geworden.”41
Gleichzeitig mehrten sich in den frühen Achtzigern warnende Hinweise auf Dioxinrückstände in der Muttermilch.
Moos
Über das erste literarische Buch von Klaus Modick42 schrieb Michael Schweizer in der taz: “Schon die stille Novelle Moos (…) war radikaler, als Greenpeace jemals sein kann.”43 Moos ist die Geschichte eines Botanikers, der sich in die Abgeschiedenheit eines Ferienhauses auf dem Lande zurückzieht und über das wissenschaftliche Naturverständnis und dessen selbstauferlegte ‘Anästhesierung’ reflektiert. In der Verwobenheit von individueller und kollektiver Biographie, Reflexionen über Evolution und Pflanzenmythologie (Philemon und Baucis etc.) beschreibt die Erzählung in ihrer Struktur ökologische Kreisläufe – bis zu ihrem Endpunkt: dem Tod des alten Mannes, der auch als Verwandlung in bzw. Vereinigung mit dem Moos gelesen werden kann.
Das Leben braucht ständig Rückgriffe, verweigert sich aber dem Rückschritt, auch wenn es ihn häufig simuliert. Sowenig die Regression des Mooses ein wirklicher Rückschritt ist, sowenig wird der Greis, der kindisch denkt, wieder zum Kind, sowenig der Wissenschaftler, über dessen Denken Bilder wachsen, zum Maler, oder, wenn seine Begriffe von einer Art Poesie angegriffen werden, zum Dichter.44
Die Novelle steht im Kontext der Diskussion um ein anderes Naturverständnis als Grundlage für eine alternative Naturwissenschaft und Technologie, innerhalb derer in den frühen achtziger Jahren häufig auf Konzepte der romantischen Naturphilosophie und insbesondere auf Goethes naturwissenschaftliche Studien zurückgegriffen wurde.
Moos wird im Kapitel Pflanzenmetamorphosen und die ‘Metamorphose der Pflanzen’ ausführlich besprochen.
Verkrampfter Umgang mit dem Waldsterben
Die DDR-Behörden taten unterdessen manches, um das Waldsterben nicht so augenfällig werden zu lassen. So berichtet Goodbody, daß die Behörden die geschwächten Bäume sogar mit dem im Westen längst verbotenen DDT ‘behandelten’: “A bizarre effort to save pine trees weakened by pests in 1984 even involved spraying them with DDT (banned in the West since 1972).”45
So konnte in der DDR bereits das ‘Ausstellen’ entnadelter Bäume als kriminelle Aktivität geahndet werden. Goodbody berichtet, daß “in October 1983 three students were arrested for ‘exhibiting’ dying trees from the Erzgebirge in a church in Potsdam”.46
You can’t sink a rainbow!
Am 10. Juli 1985 brachte ein Taucher im Hafen von Auckland zwei Sprengladungen am Greenpeace-Schiff ‘Rainbow Warrior’ an. Die Explosion versenkte das Schiff, der 32jährige Photograph Fernando Pereira kam dabei ums Leben. Es häuften sich Vermutungen, daß der französische Geheimdienst hinter diesem Sprengstoffanschlag stand, da Greenpeace den Staatspräsidenten Mitterand informiert hatte, als nächstes mit diesem Schiff eine Protestfahrt gegen die Atomtests auf Mururoa zu unternehmen.
Der spätere Untersuchungsbericht sprach zwar die französische Regierung von jeglicher Beteiligung frei, mußte aber
die Verwicklung des französischen Geheimdienstchefs Pierre Lacoste und des Direktors des französischen Nuklearforschungszentrums im Pazifik Admiral Henri Fages in die Aktion eingestehen.47
Eine internationale Schiedskommission sprach Greenpeace insgesamt über 8 Millionen Dollar Schadensersatz zu.
Die Abholzung
Der Liedermacher und Schriftsteller Franz-Josef Degenhardt veröffentlichte 1985 den Roman Die Abholzung48, der vom Widerstand einer Bürgerinitiative gegen die Abholzung eines Waldstückes handelt. Degenhardt schildert den Zeitgeist der Bürgerinitiativbewegung (als fiktiven Bericht aus einer fernen Zukunft, in der vorindustrielle Produktion und Müßiggang paradiesisch vereint sind) recht treffend: der BI gehören Angehörige aller Generationen und politischen Spektren an; Hausfrauen, Alternative und Deutschtümelnde ziehen an einem Strang, wenn durch eine Abholzung die Bäume in ihrem Lebensumfeld einem Autobahnzubringer weichen sollen.
Außergewöhnlich wird diese Schilderung durch die rätselhafte Person Mando, deren Herkunft (von einem anderen Stern? aus der nächsten Nervenheilanstalt?) im Ungewissen bleibt. Mando scheint mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet zu sein, vermag aber eigentlich nur, im Gegensatz zu den anderen, die von der Natur entfremdet und ihrer eigenen Situation gegenüber betriebsblind sind, die Sprache der Natur, die Signale der Natur sowie die Zeichen der Zeit zu lesen.
Wieder fiel es ihm schwer zu glauben, daß niemand bemerkte, was wirklich vorging, was in der Luft lag, schon mit den Händen zu fassen war. (…) Aber warum versuchte man noch, ein kleines Stück Erde zu pflegen (…) oder ein Waldstück noch vor der Abholzung zu bewahren (…) und Kinder zu kriegen? (…) Woran lag es, daß die Aktivitäten der Menschen hier in eine Richtung strömten, von wo aus das fürchterliche Ende von allen und allem nicht mehr aufzuhalten war? Sie hatten doch in den vorausgegangenen Dekaden Erfahrungen gemacht. (…) man hatte ihnen doch überall Warnzeichen aufgestellt. Wo lag der Fehler?49
Der stille Grund
Steffen Peltsch beschreibt Der stille Grund von Lia Pirskawetz als “das engagierteste Buch zum Ökologiethema, das in DDR-Zeiten auf den knappen Markt kam”.50
Eine Zeitreise führt die Protagonistin Carola Witt aus der Gegenwart um 100 Jahre zurück in die Zeit, als die Industrialisierung in den Ballungsräumen bereits zu wahrnehmbaren Umweltschäden geführt hat.
Die Wupper in Elberfeld is grün, rut und blau. Am Rhein quoalm die Eisenboahn glei an beeden Ufern zängstnunger. Die Mosel hat nu o ane Toalbahn. Vun dan Steinbrüchen an der Elbe wummer goar ni arscht redn. Die Barge warn mit Wirtschoaften verunziert, Seen und Teiche ausgetrocknet, Moore imgeackert, die Lüneburger Heide uffgeforscht, die Weiden verkoppelt, die Waldränder grodegehoackt, Tiere und Pflanzn ausgerutt und die kleen Stadl vun Mietskoasern ardrückt.51
Dabei begegnet sie u.a. den Vätern des Naturschutzes, Rudorff und Conwentz, und kann in Gesprächen die Entwicklung der ersten Gedanken zur Naturdenkmalpflege mitverfolgen.52 Carola stellt heraus, daß ökologische und sozialistische Interessen sich nicht unbedingt ausschließen müssen: “Ob man die Massen mit einer roten Fahne führt oder einem naturfarbenen Gewand, ist doch wohl nur eine Frage der Mittel. Könnte es nicht aber sein, wir meinen das gleiche Ziel?”53
In einem Aufsatz von Pirskawetz in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur vom November 1989 findet sich eine parallele Passage:
Jeder Grüne, egal, ob er sozialistisch, ob er konservativ motiviert ist, arbeitet auf eine Umpolung von Lebensbedrohung zu Lebenssicherung hin. Deswegen sehe ich in ihm einen potentiellen Verbündeten. Und ich halte es für höchste Zeit, daß wir Berührungsängste vor den grünen Parteien ablegen. Auch in Westeuropa wird sich mit seiner Vereinigung der Märkte der Kampf der roten und grünen Parteien verstärken. Das Kapital schafft sich internationale Ellbogenfreiheit auch zwecks Umweltausbeutung; dagegen hilft nur eins: daß sich die Umweltschützer international verbünden.54
Zu Beginn des Romans werden ironisch die modeabhängigen Konsumgewohnheiten, die der Legitimierung der chemische Industrie – wie bspw. in Bitterfeld – dienen, beschrieben:
Wenigstens riecht es wieder nach Gegenwart und Neuzeit. Meine Haut riecht wieder nach Seife mit Apfelduft und mein Kopfkissen nach Weichweißspüler mit Apfelduft. (…) Auf, auf, Mädchen! Den Leib in Apfelbadeschaum gehüllt, das Haupt mit Apfelshampoon (sic!) besprayt und geduscht, was Großmuttls Boiler hergibt.55
Tschernobyl: Katastrophaler Unfall56
Im April 1986 geschah in Tschernobyl in der Ukraine das Reaktorunglück, dessen verstrahlte Wolke auch Mitteleuropa erreichte. Der Schock ging tief, zum einen aufgrund der Tatsache, daß die Strahlenbelastung in Deutschland sehr hoch war, zum anderen durch die Beschwichtigungspolitik der Bundesregierung. Das hatte ein erhebliches Anwachsen des kritischen Potentials in der Bevölkerung bezüglich der Atomenergie und sonstiger Umweltgefahren zur Folge, die nun als deutlich realer empfunden wurden. So trug Tschernobyl in extrem hohen Maße zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Umweltfragen bei.
Im selben Jahr erreichten die Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Demonstranten in Wackersdorf, wo der Bau einer Wiederaufbereitungsanlage geplant war, ihren Höhepunkt.
Rheinalarm
Der November 1986 war von diversen Rheinverschmutzungen durch die Schweizer Firmen Sandoz und Ciba-Geigy bestimmt.
Zurück zur Natur?
1986 erschien in der DDR das Sachbuch Zurück zur Natur? von Marianne und Ernst Paul Dörfler, das – hinsichtlich der dortigen ‘Informationspolitik’ – erstaunlich offen die Umweltgefahren thematisiert und die ökologischen Fragen als genauso dringlich wie die Friedensproblematik herausstellt.
Ist es angesichts solcher Visionen (gemeint sind Atomkriegsszenarien, S.J.) nicht lächerlich, sich um den Erhalt einiger Quadratkilometer tropischen Regenwaldes zu sorgen? Sind wir nicht verpflichtet, alle Kräfte nur dafür aufzubringen, einen drohenden Krieg abzuwenden? Ein Krieg vernichtet Leben auf einen Schlag, grausam, radikal, für jeden sichtbar. Umweltzerstörung geht leise vor sich. Langsam sterben die Bäume, der schleichende Artentod kennt keine Schreie. (…) Der Erhalt des Friedens und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen bilden eine Einheit.57
Im Zuge der Beschreibung technischer Versuche der Schadensbegrenzung angesichts der durch die Schadstoffbelastung der Luft verursachten Baumschäden verweisen Dörfler und Dörfler auch auf die Gesundheitsschäden unter der Bevölkerung und die Schäden an Kulturdenkmälern.
Rauchhärtere Bäume züchten zu können rückt in greifbare Nähe, ist zum Teil schon tägliche Praxis. Reicht dieser Erfolg aus? (…) Berücksichtigen wir, daß in unmittelbarer Nähe der Verschmutzungsquellen Menschen leben, die an chronischer Bronchitis früher und häufiger erkranken als in Gebieten mit sauberer Luft? Denken wir an schnell rostende Brücken, Fahrzeuge und andere Konstruktionen, nicht zuletzt auch an unersetzliche historische Bauten, die Zeugen vergangener Kunst und Kultur, die unter Säureeinwirkung während der letzten 30 Jahre intensiver alterten als in dem Zeitraum mehrerer 100, ja 1000 Jahre zuvor?58
Umweltblätter
Gleichfalls 1986 wurde die Zeitschrift Umweltblätter der Umwelt-Bibliothek Berlin gegründet. Da sie keine Druckgenehmigung hatte, nutzte sie die Sonderdruckgenehmigung der Evangelischen Kirche der DDR.
In einem Bericht der ‘Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe’ (ZIAG) des Ministeriums für Staatssicherheit heißt es in dem (für Außenstehende) grotesk klingenden Stil:
Die in den ‘Ökologiegruppen’ agierenden feindlichen, oppositionellen Kräfte sind bestrebt, insbesondere in ihrer Gesamtheit bzw. bezogen auf ‘exemplarische’ Einzelbeispiele die DDR diskriminierende Daten über Umweltprobleme und -schäden zu sammeln, auszuwerten und öffentlich zu propagieren. Dazu werden eine Reihe nicht genehmigter periodischer Schriften (u.a. Umweltblätter) und sogen. Umweltdokumentationen (Pechblende – zum Uranbergbau in der DDR) sowie die Kirchen und kirchliche Veranstaltungen für thematische Ausstellungen über Umweltbelastungen, -verstöße und -schäden genutzt. Erste Hinweise liegen vor über die Verwendung von Videotechnik (Videofilm Bitteres aus Bitterfeld).59
Im November 1987 fand in den Räumen der Umweltbibliothek eine ‘Razzia’ statt, in deren Folge sieben Personen verhaftet wurden, die gerade die Umweltblätter druckten.
Unter dem Druck einer DDR-weiten Solidaritätsbewegung mußten die Verhafteten (…) einige Tage später wieder freigelassen werden und die Verfahren eingestellt werden – ein klarer Sieg der Opposition.60
Ab 1988 war es den ‘Umweltbibliothekaren’ möglich, die Wachsmatrizen zur Vervielfältigung von Samisdat-Schriften per Computer zu beschreiben und auf eigenen Abzugsgeräten zu vervielfältigen; letztere hatten die grünen Bundestagsabgeordneten Wilhelm Knabe und Caritas Hensel unter Nutzung ihrer Immunität nach Ostberlin gebracht.61
Die Rättin
Die Hauptlinie der Dystopie in Günter Grass’ Roman Die Rättin62 richtet sich auf den möglichen Weltuntergang qua Atomkrieg, den dann als einzige die Ratten überleben würden. In weiteren Erzählsträngen geht es jedoch deutlich um genuin ökologische Belange: Das Waldsterben, Umkippen der Ostsee sowie die Gefahren der Gentechnologie werden in der Grass’schen Mischung aus beißender Ironie und spielerischem Umgang mit den Erzählelementen präsentiert.
Der Strang um die Eutrophierung der Ostsee erzählt von einer Forschungsgruppe – in bester grün-alternativer Tradition – strickender Frauen auf einem Schiff, die Gewässerproben ziehen und Quallen untersuchen wollen, später bei der Befreiung von genmanipulierten Labortieren mitwirken und die sagenhafte versunkene Stadt Vineta63 suchen. Der Ich-Erzähler berichtet von den vielen Absagen der angemeldeten Frauen, um zu erklären, warum die Besatzung der ‘Neuen Ilsebill’ nicht zahlreicher war,
denn überall (…) waren streitbare Frauen gefragt, die in Luxemburg gegen Dioxin in der Muttermilch kämpften, auf der Insel Stromboli das rabiate Leerfischen des Mittelmeeres beklagten, im Schwarzwald das Waldsterben thematisierten und an beiden Ufern der Unterelbe die Ballung von Atomkraftwerken anprangerten. Redegewandt und niemals um Gutachten und Gegengutachten verlegen, stritten sie kenntnisreich und wurden sogar von Männern als vorbildlich gepriesen. Niemand konnte ihre Fakten widerlegen. Sie hatten immer das letzte Wort. Und dennoch war ihr in Wörtern erfolgreicher Kampf vergeblich; denn die Wälder hörten nicht auf zu sterben, weiterhin sickerte Gift, niemand wußte wohin mit dem Müll, und dem Mittelmeer wurden mit zu engen Netzen die letzten Fische abgefangen. Es sah aus, als werde einzig das Stricken der Frauen zu Faden schlagen…64
Die Dialoge auf dem Forschungsschiff spielten sich wie folgt ab:
‘Wann werdet ihr endlich begreifen, daß die Ostsee eines Tages umkippen wird. Nicht nur in Tiefen unter dreißig Metern. Nein! Insgesamt stinkend, tot.’ ‘Aber einundachtzig war ja die Kieler Bucht so gut wie umgekippt. Im Jahr drauf (…) lebte sie wieder.’ (…) ‘Solche Schwankungen liegen außer menschlichem Einfluß. Die Tendenz zeigt Umkippen an!’65
Die Erzähllinie um das Waldsterben bindet, was typisch für die zweite Hälfte der achtziger Jahre werden sollte, das Waldsterben an den Grimmschen Märchenwald. “Wen kümmern die falschen Fuffziger (die zwei deutschen Staaten, S.J.), wenn augenblicklich der Wald verreckt und mit ihm die Märchen draufgehen.”66 In einer fiktiven Videoproduktion von Oskar Matzerath, der sich zum Medienmogul gemausert hat, werden die Märchenfiguren zu Dokumentatoren des Waldsterbens.
Mit dem Untertitel ‘Die Triebe täuschen. Panik ist in den Bäumen!’ weisen die Sieben Zwerge an todkrankem Geäst Angsttriebe und Scheinblüten nach. Auf Knopfdruck bestätigt der Zauberspiegel Tatsachen. Zum Stummfilmuntertitel der Bösen Stiefmutter ‘Spieglein, Spieglein an der Wand, wo stirbt der Wald im deutschen Land?’, sieht man Bilder aus dem Fichtelgebirge, dem Bayrischen Wald, dem Schwarzwald, aus dem Spessart, dem Solling und Thüringer Wald. Windbrüche, kahle Westhänge, stürzende Bäume, Baumleichen, Borkenkäfer. Nun nicht mehr auf die Hexe fixiert, will Rübezahl das Riesengebirge sehen: ‘Da komm ich her!’ Worauf der Bildschirm weit und breit abgestorbene Bäume zeigt.67
427. Im Land der grünen Inseln
Die beiden Journalisten Claus-Peter Lieckfeld und Frank Wittchow erzählen in ihrem Roman 427. Im Land der grünen Inseln68 von Deutschland im Jahre 2009, in dem Gentechnologie, Computerkultur, Versteppung, Verelendung etc. zu einem kaum noch lebenswerten Umfeld geführt haben. Doch gibt es einige Öko-Oasen, ‘grüne Inseln’, in denen Wissenschaftler, religiöse Gruppen und andere Aussteiger ein ökologisch und sozial sinnvolles Miteinander etabliert haben. Die Beschreibung einer dieser utopischen Gesellschaften, der ‘Freien Republik Kraichgau’ – in Anlehnung an die ‘Freie Republik Wendland’ in Gorleben -, macht dieses Buch zu einem spannenden Ökotopia Deutschlands, auch wenn es bisher nicht den Bekanntheitsgrad seines kalifornischen Gegenstücks erlangt hat. In der Freien Republik Kraichgau wird alternatives Naturverständnis gelebt, allerdings mit deutlich religiösem Einschlag, was die ‘Efeuchristen’, die naturnah heilen und biologisch anbauen, ein wenig in die Nähe der Anthroposophen zu rücken scheint. Doch auch Wissenschaftler und Computerspezialisten sind und waren am Aufbau der Freien Republik beteiligt, die dadurch auch informationstechnisch gut abgesichert ist. Ein Spion, der hinter das Geheimnis der unknackbaren Paßwörter kommen soll und daher in den Kraichgau reist, mag den anderen Lebensstil genausowenig missen wie die gentechnisch manipulierte und dadurch unheilbar kranke Protagonistin, die als Journalistin eigentlich nur auf der Jagd nach einer Story in die Freie Republik gekommen war.
Eine ironische Anspielung auf das Waldsterben wie auf den Artenschwund bildet das von einem hochrangigen Journalisten betrübt zur Kenntnis genommene ‘Automarkensterben’.69
Daneben geschieht eine literarische Reminiszenz an die Schornsteinkletterinnen von Greenpeace: Der ‘Spion’ sei in seinem früheren Leben, bevor er in Regierungskreise aufgestiegen war, selbst aktives Mitgleid der Ökologiebewegung gewesen. Bei seiner Kursänderung auf seine Karriere zu habe er “eine Frau aufgegeben, die in ihrer Jugend auf Kaminschornsteine geklettert war, damit die aufhörten, Schwefel zu spucken.”70
Innerfiktional wird die Frage, was denn die Bundesbürger in den neunziger Jahren davon abgehalten habe, sich für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen einzusetzen, mit der These einer ‘kollektiven Verdrängung’ beantwortet.
Nun wurde aber in den neunziger Jahren angesichts der sterbenden Wälder, der verschütteten Alpentäler, der Kloake Nordsee aus der individuellen Verdrängung eine kollektive. Dazu kam, daß die Summe der Umweltschreckensnachrichten bei ihren Konsumenten nur die Schmerzgrenze hochtrieb. Die kollektive Verdrängung hatte (…) nicht nur die Staatsbürger, sondern auch deren Repräsentanten erfaßt.71
Tapirkind und Sonnensohn
Wolfgang Schmidbauers Erzählung Tapirkind und Sonnensohn72 schildert den Kampf zwischen der industrialisierten und einer wildbeuterischen Lebenswelt, der dadurch brisant wird, daß er mit Unterstützung von Ethnologen geführt wird. Im südamerikanischen Regenwald versucht eine Gruppe der Yaqui-Indianer, den Bau einer Erschließungsstraße zu verhindern, als ein für sie heiliger Baum gefährdet ist. Der Gewalt der Waffen und Maschinen setzen die Indianer ihr Wissen um die Angst der Weißen vor unerklärlichen Phänomenen entgegen, die sie zu schüren und für sich zu nutzen wissen: “Sie werden nicht an den Fluch der Yaqui glauben, weil solche Dinge nicht in ihr Bild der Welt passen. Aber sie werden anfangen, ihn zu fürchten.”73
Störfall
Im Erzähltext Störfall74 von Christa Wolf beschreibt die Ich-Erzählerin ihre Gedanken, Gefühle, Eindrücke, Reflexionen und Erlebnisse an dem Tag, als die Nachricht von dem Reaktorunglück und dem Ausbreiten der Radioaktivität bis Mitteleuropa in Deutschland bekannt wurde. Die Bedrohungen, die von der Strahlenwolke ausgehen, interferieren mit der Sorge um ihren Bruder, der sich an diesem Tag einer Hirnoperation unterzieht. Zitate von Brecht und Hermlin, Neuerzählungen des Faust-Stoffes, versteckte Anspielungen auf Cibulkas Swantow und direkte Bibel-Bezüge geben dem Text zwischen den Zeilen eine unerwartete Schärfe und Brisanz.
Störfall wird im Kapitel Die Oszillation der Semantik detailliert untersucht.
Der Flötenton
Gabriele Wohmanns Roman Der Flötenton thematisiert zwar ständig die Folgen des Reaktorunglücks, doch bilden diese kein handlungstragendes Element. Tschernobyl und die ausgelösten Ängste bilden ein beständiges Untergrundrauschen, das die Handlung begleitet. Dadurch spiegeln sie überzeugend das Lebensgefühl der Bundesbürger in diesem Sommer 1986 wieder, das von der Sorge um die gesundheitlichen Folgen für sich selbst und die Angehörigen bestimmt war.
Schweigen ist tödlich
In ihrem als Roman über die Umweltzerstörung untertitelten Text Schweigen ist tödlich greift Marianne Barainsky auf die Aktualität der Umweltthemen von Tschernobyl bis zur Rheinverschmutzung und sonstigen Unfällen in Chemiewerken zurück, um lebensschützerisch-rechtes Gedankengut unter dem Deckmantel der Ökologie zu tarnen.75
Gift
Über den Behörden- und Pressefilz samt zugehörigem Beziehungsklüngel in der ‘Szene’ rund um den Boehringer-Dioxin-Skandal in Hamburg, der 1984 zur Schließung des Werkes führte, berichtet Wolf W. Thomsen in seinem witzigen und spannenden Roman Gift76.
Reinhard stützte das Kinn auf und sann: ‘Aktuelles Thema – hmmm – Ökologie – Umweltschutz: Ökokrimi! Zum Beispiel: Techniker eines Chemiekonzerns verliebt sich in Alternativpädagogin und Bürgerinitiativenaktivistin. Was hältst du davon?’ ‘Typisch. Aber ich warne dich: Hör auf! Du hast mir gerade versprochen, meinen Namen nicht zu erwähnen.’ ‘Keine Angst. Du bekommst langes schwarzes Haar und erhältst den Namen Lisa. Den Techniker nennen wir … Reinhard. Solide deutsche Namen. Und den Konzern: Gehringer, nein, zu nah: Gertinger.’ 77
Die Wolke
Gudrun Pausewang, die bereits in ihrem Buch Die letzten Kinder von Schewenborn eindringlich vor den Folgen eines atomaren Angriffs auf Deutschland gewarnt hatte, veröffentlicht ein Jahr nach der Katastrophe von Tschernobyl das Jugendbuch Die Wolke78, für das sie 1988 den deutschen Jugendliteraturpreis erhielt. Mit schonungsloser Offenheit schildert sie die Folgen eines SuperGAUs im Atomkraftwerk Grafenrheinfeld. In einem Interview zu den Vorwürfen von Kritikern befragt, sie setze ihre “Leser Angstgefühlen und Schreckensvisionen aus, die sie nicht bewältigen können”, antwortete sie:
Die jungen Leser meiner ‘Atombücher’ werden ja nicht erst durch diese Lektüre mit der atomaren Gefahr konfrontiert. Auch junge Leute, die niemals meine Bücher gelesen haben, wissen um die Gefahren eines Atomkriegs oder einer Reaktorhavarie. Wollten die Erwachsenen den Jugendlichen Zukunftsängste ersparen, sollten sie die Realität ändern, nicht meine Bücher verdammen!79
Bekenntnisse eines Ökoterroristen
Ein literarisch eher unbedeutender ‘Szene-Roman’ sind die Bekenntnisse eines Ökoterroristen aus dem Jahre 198880 von Tommy Z., zu dessen eindrucksvollsten Schilderungen die der ‘Schlacht in Wackersdorf’ von Pfingsten 1986 gehört, als nach dem Tschernobyl-Schock der Widerstand gegen die Wiederaufbereitungsanlage seinen Höhepunkt fand und mit brutalen Einsätzen von Polizei und Bundesgrenzschutz beantwortet wurde.
X. Schriftstellerkongreß der DDR
Im November 1987 fand der X. Schriftstellerkongreß der DDR statt, der in vielerlei Hinsicht interessant war: In seiner Rede zur Eröffnung des Kongresses räumte Hermann Kant der Frage, ob es für das vielzitierte ‘Gespräch über Bäume’ die rechte Zeit sei, Schlüsselfunktion ein.
Ob es die rechte Zeit sei, Gedichte oder andere Gespräche über Sternenaugen oder, nicht wahr, Bäume zu führen, ist eine Erkundigung, die wahrscheinlich einhergeht mit einer Geschichte der Literatur, aber im Deutschen dieses sozialistischen Landes ist sie, Wiederholung, eine Erkundigung mit Schlüsselcharakter.81
Am folgenden Tag stellte Jurij Koch die Bedeutung der ökologischen Frage in deutlicher Schärfe am Beispiel des Braunkohletagebaus heraus.
Beschädigung? Danach wird nicht gefragt (…) Danach frage ich hier und künftig, denn es gehört zur Ethik meines Berufes, die mir permanenten Zweifel auferlegt. (…) Der Neuaufschluß eines Tagebaus (…) wird als Sieg gefeiert (…) übergehend den landesweiten, wenn nicht kontinentalen, vielleicht sogar planetaren Schaden versetzter Berge und Hügel, verlegter Flüsse, verfüllter Senken des Urstromtals verschwundener Dörfer und angefressener Peripherien der Städte, der durch Staub und Schwefeldioxid verunreinigten Luft, des verlorenen nützlichen Bodens, übersehend die durcheinandergebrachten unterirdischen Gewässer, die eingeschränkte natürliche Vielfalt und ihre gefährliche Einfalt, denn die zerfaserten subtropischen Mammutbäume und Sumpfzypressen sind ans Licht gebracht und zu Licht gemacht.82
Dabei betont er unter Berufung auf ein Marx-Zitat die Notwendigkeit aller Maßnahmen, die neben denen zur Abwendung des drohenden Atomkrieges zur Abwendung der ökologischen Katastrophe zu ergreifen seien.
Wo ist die Grenze auf unserem Weg, an der wir sagen: Bis hierher und nicht weiter!? Denn ‘selbst eine ganze Gesellschaft’, ich zitiere Marx, ‘eine Nation, ja selbst alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.’ (…) Der Mensch hat die Kraft, (…) den apokalyptischen atomaren Untergang zu verhindern. Doch es wird der gleichen, wenn nicht noch einer größeren menschheitlichen Anstrengung bedürfen, um dem drohenden ökologischen Untergang zu begegnen.83
Angesichts des Verschweigens der Umweltproblematik in der DDR von offizieller Seite hatte ein solcher Beitrag auf dem Schriftstellerkongreß beträchtliche Signalwirkung.
Wegscheide
Wieder einmal war es Hanns Cibulka, der in einer fiktiven Tagebucherzählung hinsichtlich der ökologischen Situation in der DDR eminent deutlich wurde. Diesmal bilden der Thüringer Wald und das Waldsterben den thematischen Schwerpunkt der Erzählung.
Der Ich-Erzähler erwähnt den Brief eines Freundes, in dem dieser ihm berichtet habe, daß Städte und Gemeinden keine Meßdaten über Umweltbelastungen mehr veröffentlichten und selbst die GNU kaum noch Zugang zu den Daten habe. Dazu merkt er an:
Meßdaten sind keine militärischen Daten, keine geheime Verschlußsache. Der Mensch muß heute mehr denn je auf die Gefahren aufmerksam gemacht werden, die grenzüberschreitend durch die Luft, das Wasser, aber auch in der Nahrung auf ihn zukommen. Der Schwefeldioxidgehalt in den Zentren der europäischen Großstädte müßte an Meßsäulen genauso ablesbar sein wie in Tokio.84
Wie Dörfler bezieht auch er sich auf die Rede von der Notwendigkeit der Züchtung rauchhärterer Bäume und bringt dann, wie Dörfler in der oben zitierten Passage, die Rede auf die Menschen: “Wir haben den Wäldern das Todesurteil gesprochen (…). Aber auch der Mensch zeigt seine ersten Nekrosen.”85
Auf einem Spaziergang zeigt ein anderer Freund dem Ich-Erzähler die Auswirkungen des sauren Regens:
Sieh dir das einmal an, (…) die Verfärbungen an den Nadeln, scharf abgegrenzt, die Farben wechseln, graugrün, rotbraun, da und dort ein braunviolett, der gesamte Nadeljahrgang zeigt ernste Schäden. Die Immissionseinwirkungen nehmen zu, Schadstoffanreicherung in den Pflanzenteilen, so sagen die Fachleute. Auf Grund der Wasserbewegung innerhalb der Nadeln entstehen an den Spitzen die Nekrosen, ein paar Jahre später kommt der Zelltod.86
Neben dieser detaillierten Beschreibung der Symptome belegt er den Zustand der Wälder mit statistischen Angaben:
Wer heute noch glaubt, die Natur im Thüringer Wald befinde sich im Gleichgewicht, geht mit geschlossenen Augen durch die Landschaft: seit Jahren gibt es keine Heidelbeeren mehr, jeder siebente Baum hat Rauchschäden.87
Rilke aktualisierend umdeutend, schreibt er von der “Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft”.88 Möglicherweise anspielend auf den von Goodbody erwähnten Einsatz von DDT zum Schutz der Bäume durch die DDR-Behörden 1984 zitiert der Ich-Erzähler aus der Tagespresse:
Ende Juni und Anfang Juli werden über dem Thüringer Wald (…) Flugzeuge zu sehen sein, die auf 340 Hektar Pflanzenschutzmittel gegen die Fichtengespinstblattwespe sprühen. Die betroffenenen Waldgebiete müssen aus Gründen der Sicherheit für die Dauer dieser Bekämpfungsmaßnahmen und bis zu drei Tage danach gesperrt werden. Außerdem ist es für weitere sechzig Tage nicht gestattet, dort Beeren und Pilze zu sammeln.89
Killeralgen in der Nordsee
Im Juni 1988 machte das durch ‘Killeralgen’ verursachte Fischesterben in der Nordsee Schlagzeilen. Als sich herausgestellt hatte, daß für die übermäßige Algenvermehrung Überdüngung, saurer Regen und vermutlich der Treibhaus-Effekt verantwortlich waren und ab Juli massenhaft Seehunde verendeten, demonstrierten Zehntausende am 24. Juli mit Menschenketten für eine saubere Nordsee. Dieses Beispiel verdeutlicht noch einmal, wie stark die Sorge um den Erhalt der Umwelt in den achtziger Jahren emotional besetzt war.
Der Mord an Chico Mendes
Zwei Tage vor Heiligabend 1988 wurde in Brasilien der Umweltschützer und Gewerkschafter Chico Mendes ermordet. Sein Tod war angekündigt, die Mörder waren Viehzüchter, deren Interessen sein Engagement für den Erhalt des Regenwaldes zuwiderlief. Er wurde dadurch zum ‘Märtyrer des Waldes’ stilisiert, wie Hennek Löbbers in der Zeitschrift natur schrieb90. Der Brasilianer Marcio Souza fragt kritisch an, was denn das ‘Getue um die Ökologie als typisch postindustrielle Erscheinung mit dem Bauernführer aus Acre zu tun’ habe.91 Die Mendes-Story wird in Romanen von Simmel (Im Frühling singt zum letztenmal die Lerche) und Konsalik (Das Regenwald-Komplott) verarbeitet.
Pechblende
Als Untergrund-Schrift über die Umweltbelastungen des Uranbergbaus der SDAG Wismut in der DDR veröffentlichte Michael Beleites 1988 seine Dokumentation mit dem Titel Pechblende. Die Stasi reagierte direkt auf diesen Tabubruch und befand:
Der politisch-operativ relevante Charakter der Schrift ergibt sich insbesondere aus ihrer Zielstellung, eine einseitig orientierte, mit den staatlichen Interessen kollidierende Umweltschutzdiskussion auszulösen…92
Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch
Michael Ende legte 1989 mit seinem Kinderbuch Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch eine Märchenerzählung vor, die das Märchenpersonal als Betroffene und Akteure der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ausweist. In einer phantasievollen und witzigen Szenerie schildert er die Union von Technologie (dem Zauberer Beelzebub Irrwitzer) und Kapital (seiner Tante, der Geldhexe Tyrannja Vamperl), die sich der Hölle gegenüber vertraglich verpflichtet haben,
bis zu jedem Jahresende, direkt oder indirekt, zehn Tierarten auszurotten, gleich ob Schmetterlinge, Fische oder Säugetiere, ferner fünf Flüsse zu vergiften, oder fünfmal ein und denselben Fluß, desweiteren mindestens zehntausend Bäume zum Absterben zu bringen und so weiter und so fort, bis hin zu den letzten Punkten: Jährlich mindestens eine neue Seuche in die Welt zu setzen, an der Menschen oder Tiere oder beide zugleich krepieren. Und letztens: Das Klima ihres Landes so zu manipulieren, daß die Jahreszeiten durcheinader geraten und entweder Dürreperioden oder Überschwemmungen entstehen.93
Der ‘Hohe Rat der Tiere’ hat den beiden Spione ins Haus geschickt, die nun verhindern, daß am Silvesterabend die Erfüllung des höllischen Kontraktes noch gelingt.
Der Fall der Mauer
In Grass’ Rättin stellt der Ich-Erzähler die Frage, wen die deutschen Staaten kümmern, “wenn augenblicklich der Wald verreckt”. Seit 1989 gilt dieser Satz umgekehrt: Wen kümmert noch die Umwelt, wenn Deutschland sich wiedervereinigt (hat)? Abgesehen von den Ereignissen im Sommer 1995 um die Versenkung der Ölplattform Brent Spar und den französischen Atomtest auf Mururoa hat die Ökologie ihre Breitenwirkung verloren. Umweltpolitik ist eine Sache der Volksvertreter geworden, Greenpeace repräsentiert das Umweltgewissen der Nation, die Castor-Transporte mobilisieren zwar ab und an die Anti-Atom-Bewegung, aber Stichworte wie ‘Öko-Steuer’ mobilisieren dagegen lediglich den Blick auf die Benzinpreise und in den Geldbeutel.
War in den achtziger Jahren, wie gesagt, das Thema Umwelt durch diverse Ereignisse emotional stark aufgeladen, änderte sich die Situation mit den Ereignissen in Berlin im November 1989 schlagartig, so daß man regelrecht davon sprechen kann, die ‘ökologische Geschichte’ sei, was das öffentliche Interesse betrifft, von den ‘Geschichten um Deutschland’ abgelöst worden.
Die symbolische Geschichte von der Öffnung der Mauer, vom europäischen und deutschen Zug, von der rasenden Fahrt des deutschen Autos zur Einheit, von den Warteschleifen des deutschen Flugzeugs durch die Turbulenzen und vom Warten auf den Aufschwung-Ost erweist sich als Musterfall einer politischen ‘mythischen Geschichte’. Diese Geschichte unterbrach und ersetzte bis auf weiteres die zuvor dominante (ökologische) ‘mythische Geschichte’ vom Sterben des deutschen Waldes.94
Von daher ist die folgende Darstellung hauptsächlich nur noch ein Blick auf die Literatur. Themen wie Müll-Exporte, Ozonloch, Treibhauseffekt, Sommer-Smog und Gentechnologie sind in den neunziger Jahren zwar bekannt und jeweils für kurze Zeit auch diskursbestimmend, aber – verglichen mit Seveso, Harrisburg, dem Waldsterben, Tschernobyl, dem Seehundsterben in der Nordsee und dem Rheinalarm – ohne Signalwirkung.
Den umweltengagierten Schriftstellern in der Noch-DDR war es gelungen, eine Ausgabe der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur ganz dem Thema Umwelt zu widmen: die Novemberausgabe. Am 19. Oktober hatten die TeilnehmerInnen der Brodowiner Gespräche eine Erklärung zum ‘ökologischen Umbau unserer Gesellschaft’ mit den Forderungen nach ehrlicher Umweltinformation in allen Medien, Energiesparmaßnahmen, konsequentem Recycling, Orientierung an nachwachsenden Rohstoffen und regenerativen Energiequellen und qualitativem anstelle von quantitativem Wachstum verabschiedet, in der es u.a. hieß:
Vor uns steht die ökologische Umgestaltung der Industrie, Landwirtschaft, Verkehr und anderer Bereiche, bis hin zum Lebensstil. Zu entwickeln sind auch Umweltökonomie, politische Ökologie, Umweltrecht und Umweltmoral. Sich diesen Herausforderungen zu stellen, ist für den Sozialismus in der DDR eine Überlebensfrage ersten Ranges.95
Der desolate, um nicht zu sagen katastrophale ökologische Zustand der ‘Fünf neuen Länder’ verbesserte sich in den darauffolgenden Jahren rapide, was jedoch eher an der Schließung vieler ‘abgewickelter’ schadstoffemittierender Betriebe als an ökologischen Zielsetzungen lag.
(Fußnoten Teil 3, darunter weiter mit Teil 4)
3 Behrens, Hermann; Benkert, Ulrike; Hopfmann, Jürgen; Maechler, Uwe: Wurzeln der Umweltbewegung. Die ‘Gesellschaft für Natur und Umwelt’ (GNU) im Kulturbund der DDR, Marburg 1993, S. 52f.
5 Maron, Monika: Flugasche, Frankfurt/M. 1981. Vgl. auch: Kane, Martin: Culpabilities of the Imagination. The Novels of Monika Maron, in: Literature on the Threshold. The German Novel in the 1980s, hrsg. v. Arthur Williams, Stuart Parkes, Roland Smith, New York 1990, S. 221-234; Kloetzner, Sylvia: Perspektivenwechsel. Ich-Verlust bei Monika Maron, in: Zwischen gestern und morgen. Schriftstellerinnen der DDR aus amerikanischer Sicht, hrsg. v. Ute Brandes, Berlin / Bern usw. 1992, S. 249-262; Lukens, Nancy: Gender and the Work Ethic in the Environmental Novels of Monika Maron and Lia Pirskawetz, in: Studies in GDR culture and society 8, Lanham 1988, S. 65-81
11 Pabst, Eije: … den Gedanken verbreiten, wie man sich wehren kann!, in: Zeit des Zornes. ‘Warum wir für Greenpeace kämpfen’. 12 Antworten, hrsg. v. Barbara Veit und Hans-Otto Wiebus, München 1987, S. 111-134, S. 128
13 Pirskawetz, Lia: Der Arbeitskreis ‘Literatur um Welt’, in: Literatur und Umwelt. Ein Beitrag zur geistig-kulturellen Vereinigung Deutschlands, hrsg. v. d. Katholischen Akademie Hamburg in Verbindung mit dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, Hamburg 1994, S. 137-139, S. 137f.
15 Pirskawetz, Lia: Lehrbrief ‘Literatur und Umwelt’ (Weiterbildendes Fernstudium Umwelt & Bildung der Universität Rostock), mit einem Beitrag von Sabine Jambon und Redeauszügen von Jost Hermand und Margarete Hannsmann, Rostock 1997, S. 52. Der einzige literarische Text, der – von einem Urankumpel verfaßt – in der DDR den Uranbergbau durch die SDAG Wismut thematisierte, ist der 1968 erschienene Roman ‘Sankt Urban’ von Martin Viertel, der jedoch hinsichtlich der möglichen Gefahren durch das abgebaute Erz kritiklos und emphatisch der offiziellen Lesart folgt: der Beitrag zur Herstellung sowjetischer Atombomben sichere den Weltfrieden. “Ich sage, unser Kampf ist eine Sache unserer Menschlichkeit. Wir werden Sonnenkräfte besitzen und es wird ein Segen sein. Wenn du unbedingt wissen willst, wo die Weltgeschichte anfängt: meinetwegen auf dem Sankt Urban (einem Schacht, S.J.) (…) oder in einem russischen Laboratorium. Dort fängt die Weltgeschichte an, und um deine drei Bäume kümmert sie sich einen Schmutz.” (Viertel, Martin: Sankt Urban, Berlin 1968, S. 220. Den Hinweis auf diesen Roman verdanke ich Dr. Jan S. Lautenbach.)
16 Meines Wissens sprechen statische Gründe durchaus dafür, was aber literaturwissenschaftlich unerheblich ist.
27 Everwyn, Klas Ewert: Der Dormagener Störfall von 1996. Eine Legende, Dormagen 1982, 2. Auflage 1983
37 Vgl. Vahrenholt, Fritz: Seveso und die Folgen, in: Die Skandale der Republik, hrsg. v. Georg M. Hafner und Edmund Jacoby, Reinbek 1989, S. 144-150
39 Vgl. auch: Barker, Peter: ‘Die Schmerzen der endenden Art’. Ecological themes in the works of Sorbian writers from the 1970s to the 1990s, in: Literatur und Ökologie, a.a.O., S. 199-212
40 “Ich bin übrigens gar kein großer Kletterer, auch wenn das so den Eindruck erweckt hat, weil ich für Greenpeace öfter auf Schornsteinen saß. (…) Die Aufseiltechnik habe ich von Barbara Fruth gelernt.” (Pabst, Eije: … den Gedanken verbreiten, a.a.O., S. 125f.)
Die Darstellung von Barbara Fruth selber lautet folgendermaßen: “In den Ferien zwischen Abitur und Studienbeginn habe ich ein Buch über Greenpeace gelesen. Mir wurde schnell klar, daß ich hinter der Idee von Greenpeace voll stehen kann. (…) Am Anfang war es mühsam, Kontakt aufzunehmen, weil im Sommer keiner aus der Münchner Greenpeace-Gruppe da war. Aber dann funktionierte es, ich ging in die ‘Waldsterben-Gruppe’, weil ich dachte, da könnte ich meine Biologie anwenden. Und dann ging alles sehr schnell. Ich bekam einen Anruf aus Hamburg, denn es war bekannt geworden, daß ich diese Höhlenklettertechnik beherrschte. Ich bin raufgefahren, ohne genau zu wissen, was geplant war. Ich wußte nur, daß es die Auftaktaktion gegen den sauren Regen werden würde. Und so bin ich in einem Trainingscamp in Nortorf gelandet, wo wir einen Fabrikschornstein gemietet hatten, um Klettern und Transparenteentfalten zu üben.” (Fruth, Barbara: Mir sind Leute zuwider, die es allen recht machen wollen!, in: Zeit des Zornes, a.a.O., S. 135-155, S. 140f.)
41 Weidenbach, Thomas; Kerner, Imre; Radek, Dagny: Dioxin – die chemische Zeitbombe. Bestandsaufnahme und Auswege, Köln 1984, S. 68
47 Altmann, Christian; Fritzler, Marc: Greenpeace. Ist die Welt noch zu retten?, Düsseldorf 1995, S. 60
48 Degenhardt, Franz-Josef: Die Abholzung, München 1985, Vgl. auch: Peitsch, Helmut: Franz Josef Degenhardt: Die Abholzung, in: Literatur und Ökologie, a.a.O., S. 213-241
51 Pirskawetz, Lia: Der Stille Grund, Berlin 1985, S. 241. Vgl. auch Lukens, Nancy: Gender and the Work Ethic in the Environmental Novels of Monika Maron and Lia Pirskawetz, in: Studies in GDR culture and society 8, Lanham 1988, S. 65-81
52 “‘Kennen Sie den Aufruf dieser Kommission’, fragte der Fremde (Rudorff, S.J.) zögernd, ‘dieser, wie heißt sie nur, dieser Kommission zur Erforschung und zum Schutz der Denkmäler in der Provinz Sachsen?’ (…) Ich hatte ihn (den Aufruf, S.J.) gleich doppelt angestrichen und Sätze wie jene dreifach: ‘Mehr als je sind die Denkmäler der Vergangenheit unseres deutschen Volkes in der alles umgestaltenden Gegenwart unsres Schutzes bedürftig. Das gesteigerte Erwerbs- und Verkehrsleben unserer Tage bedroht die Schöpfungen der Vorzeit wie nie zuvor und vermindert ihren Bestand in weit höherem Maße, als es vordem Brände, Kriege oder rohe Zerstörungswut getan haben.’ ‘Was nutzt uns dieser Aufruf’, knurrte der Bürgermeister, ‘er bezieht sich nur auf Denkmäler, die Menschenhand geschaffen hat.’ ‘Dann sind wir wohl einer Meinung, meine Herren. Was not tut, ist ein vergleichbarer Aufruf mit nachfolgender Gesetzgebung zum Schutz natürlicher Werte der Heimat.” (Pirskawetz, Der Stille Grund, a.a.O., S. 352f.)
“Ohne mich anzusehen, begann der Professor in leicht gelangweiltem Ton zu dozieren: ‘Ich predige es allerorten, solche Naturdenkmäler sind zu schützen, hier ein Felsen, dort ein Eibenhain, da ein See und dort eine Flußwiese, eine Endmoräne, ein erratischer Block oder ein kleines Moor. Vom Fiskus könnte man dafür die gleichen finanziellen Opfer verlangen, die er für Kulturdenkmäler längst auszugeben gewohnt ist.’ ‘Gewiß’, sagte ich zögernd, ‘aber wäre es nicht zu wenig, einzelne Objekte zu schützen? Der Talwächter (eine Felsformation, S.J.) bezieht seine Wirkung auch aus der Landschaft. Ohne ihre Idylle wäre er ein freudloses Trumm, die Wanderung hierher reizlos, die Einsamkeit passJ. Kann man nicht die ganze Landschaft um die Naturdenkmäler herum unter Schutz stellen?’ Überrascht wandte mir der Professor immerhin sein Profil zu. ‘Sie denken an einen Nationalpark, wie Sie ihn von daheim (aus den USA, S.J.) kennen? Der Yellowstone-Park, das Yosemite-Tal, beeindruckende Leistungen der Vernunft. Ich fürchte nur, Deutschland ist nicht Amerika. Grund und Boden sind hier privat, es wird bei uns wirtschaftlich unmöglich sein, ein größeres Gelände der Nutzung zu entziehen.’” (Pirskawetz, Der Stille Grund, a.a.O., S. 254)
54 Pirskawetz, Lia: Wider die Umweltignoranz, in: Neue Deutsche Literatur, 37. Jahrgang, H. 11, 9/1989, S. 87-90, S. 87
56 Nach der ‘Internationale(n) Bewertungsskala für bedeutsame Ereignisse in atomtechnischen Anlagen’ ist der ‘katastrophale Unfall’ die schwerwiegendste Stufe nach ‘schwerer Unfall’, ‘ernster Unfall’ (z.B. Harrisburg / USA, 1979), ‘Unfall’ (Saint Laurent / Frankreich, 1980), ‘ernster Störfall’ (z.B. Vandellos / Spanien, 1989), ‘Störfall’ und ‘Störung’. Diese Skala macht noch einmal deutlich, welch ein Euphemismus die Bezeichnung Störfall für den GAU in Tschernobyl war. (Vgl. Fritzler, Marc: Ökologie und Umweltpolitik, Bonn 1997, S. 108)
59 Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar -November 1989, hrsg. v. A. Mitter und S. Wolle, Berlin (Ost) 1990, S. 47, zit. nach Knabe, Umweltkonflikte im Sozialismus, a.a.O., S. 281
60 Knabe, Hubertus: Nachrichten aus einer anderen DDR. Inoffizielle politische Publizistik in Ostdeutschland in den achtziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B36/98, 28.8.1998, S. 26-38, S. 35
62 Grass, Günter: Die Rättin, Darmstadt und Neuwied 1986. Vgl. auch: Elsner Hunt, Irmgard: Vom Märchenwald zum toten Wald: ökologische Bewußtmachung aus global-ökonomischer Bewußtheit. Eine Übersicht über das Grass-Werk der siebziger und achtziger Jahre, in: Günter Grass. Ein europäischer Autor? hrsg. v. Gerd Labroisse und Dick van Stekelenburg, Amsterdam / Atlanta 1992, S. 123-168; Görtz, Franz Josef: Apokalypse im Roman. Günter Grass’ Die Rättin, in: Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1991, S. 197-210; Preece, Julian: Literature and the End of the World. Günter Grass’s Die Rättin, in: Literature on the Threshold. The German Novel in the 1980s, hrsg. v. Arthur Williams, Stuart Parkes, Roland Smith, New York 1990, S. 321-334
63 Vineta tauchte – im doppelten Wortsinne des Vorkommens im Text wie auch des Auftauchens aus dem Meer – auch in der Buchfassung von Cibulkas ‘Swantow’ auf.
68 Lieckfeld, Claus-Peter / Wittchow, Frank: 427. Im Land der grünen Inseln. Roman über die absehbare Zukunft, München 1986
69 “Er hatte damals die Verarmung der Autofauna mit wehem Herzen erlebt, das große Automarkensterben auf Autobahnen und Landstraßen hatte ihn nicht kalt gelassen. In seiner Jugend hatte es noch Autos gegeben, die so schnell waren, daß man die Spitzengeschwindigkeit wegen des dichten Verkehrs praktisch nie ausfahren konnte. Das war so etwas wie die romantisch unerfüllte Liebe der fahrenden Ritter gewesen, unsagbar komisch, ein technisch sauber konstruierter Triebstau auf Rädern.” (Lieckfeld / Wittchow, 427, a.a.O., S. 101)
“Mayer-Salm ging zu einer kurzen kulturkritischen Betrachtung über: das Artensterben in der freien Autolandschaft. Seit es weltweit nur mehr fünf Autokonzerne gab, war die bunte Blechfauna zu schnöder Serienmäßigkeit verarmt. Wo gab es noch die kalte Pracht eines Mercedes? Wo waren sie hin, all die bunten Blechschweine?” (Lieckfeld / Wittchow, 427, a.a.O., S. 68)
72 Schmidbauer, Wolfgang: Tapirkind und Sonnensohn. Eine ökologische Erzählung. Bericht über das Schicksal des Seelenbaums und den Kampf der Kinder des Tapir gegen die Straße der weißen Männer, aufgezeichnet von Wolfgang Schmidbauer, Reinbek 1986
74 Wolf, Christa: Störfall. Nachrichten eines Tages, Berlin und Weimar 1987. Vgl. auch: Ankum, Katharina von: Christa Wolfs Poetik des Alltags. Von Juninachmittag bis Was bleibt, in: Zwischen gestern und morgen. Schriftstellerinnen der DDR aus amerikanischer Sicht, hrsg. v. Ute Brandes, Berlin / Bern usw. 1992, S. 183-198; Brandes, Ute: Probing the Blind Spot: Utopia and Dystopia in Christa Wolf’s Störfall, in: Studies in GDR culture and society, Band 9, Washington 1989, S. 101-114; Burgess, J. Peter: “a serenity of still and exquisite brilliance”. Technology and Subjectivity in Christa Wolf’s Störfall, in: Narrative Turns ans Minor Genres in Postmodernism, hrsg. v. Theo D’haen und Hans Bertens, Amsterdam / Atlanta 1995, S. 61-80; Fox, Thomas C.: Feministische Revisionen. Christa Wolfs Störfall, in: Spätmoderne und Postmoderne. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt/M. 1991, S. 211-223; Hausmann, Reinhild: Die Literaturrezeption in Christa Wolfs Erzählung “Störfall”, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge II – 2/1992, S. 284-299; Haines, Brigid: The reader, the writer, her narrator and their text(s): intertextuality in Christa Wolf’s Störfall, in: Christa Wolf in Perspective, hrsg. v. Ian Wallace, Amsterdam 1994, S. 157-172; Hebel, Franz: Technikentwicklung und Technikfolgen in der Literatur. Timm, Der Schlangenbaum / Eisfeld, Das Genie / Dürrenmatt, Der Auftrag / Wolf, Störfall, in: Deutschunterricht 41 (1989), S. 35-45; Meyer-Gosau, Frauke: Am Ende angekommen. Zu Christa Wolfs Erzählungen Störfall, Sommerstück und Was bleibt, in: literatur für leser 90/2, S. 84-93; Rey, William H.: Blitze im Herzen der Finsternis. Die neue Anthropologie in Christa Wolfs Störfall, in: The German Quarterly 62.3 (1989), S. 373-383; Rudloff, Holger: Literatur nach Tschernobyl, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 37 (1990) H2, S. 11-19; Ziller, Ursula: Christa Wolf, Störfall. Nachrichten eines Tages, in: Erzählen, Erinnern. Deutsche Prosa der Gegenwart. Interpretationen, hrsg. v. Herbert Kaiser und Gerhard Köpf, Frankfurt/M. 1992, S. 354-371
75 Vgl.: Jambon, Sabine: ‘Freiwild verbrecherischer Horden’. Rechtsökologische Stereotype in M. Barainskys Schweigen ist tödlich, in: Mythologica 5. Düsseldorfer Jahrbuch für interdisziplinäre Mythosforschung, hrsg. v. Peter Tepe, Markus Küppers, Yoshiro Nakamura, Essen 1997, S. 86-102
78 Pausewang, Gudrun: Die Wolke. Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewußt, Ravensburg 1987
81 Kant, Hermann: Rede auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR, Plenum, hrsg. v. Schriftstellerverband der DDR, Berlin / Weimar 1988, S. 21-52, S. 25
82 Koch, Jurij: Rede auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR, Plenum, hrsg. v. Schriftstellerverband der DDR, Berlin / Weimar 1988, S. 153-157, S. 154
84 Cibulka, Hanns: Wegscheide, Halle /Leipzig 1988, auch enthalten in (und hier zitiert nach): ders., Thüringer Tagebücher, Leipzig 1993, S. 224, vgl. auch die Anmerkung zu ‘Wegscheide’ bei Schenkel, Michael: Fortschritts- und Modernitätskritik in der DDR-Literatur. Prosatexte der achtziger Jahre, Tübingen 1995, S. 293
91 Souca, Mario: De regenwoudman. Chico Mendes en het einde van het amazone-gebied, Amsterdam 1992, S. 15 (Übersetzung von mir)
92 Beleites, Michael: Altlast Wismut. Ausnahmezustand, Umweltkatastrophe und das Sanierungsproblem im deutschen Uranbergbau, Frankfurt/M. 1992, S. 14
94 Becker, Frank; Gerhard, Ute; Link, Jürgen: Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Foschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II), in: IASL 22.1 (1997), S. 70-154, S. 107
95 Erklärung: Gedanken zum ökologischen Umbau unserer Gesellschaft, in: Wurzeln der Umweltbewegung, a.a.O., S. 175f.
Die neunziger Jahre
Nachzeit
1990 erschien der bereits 1988 in der DDR fertiggestellte Roman Nachzeit von Olaf G. Klein, der aus der Sicht einer Studentin, die ihr Studium bis Sommer 1986 in Kiew absolviert hatte, ihre Erfahrung mit den Geheimhaltungsstrategien der Behörden bezüglich der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl sowie ihr Leiden an der Strahlenkrankheit schildert. Den Studenten der DDR wurde aus politischen Gründen die vorzeitige Heimreise untersagt, die Zusammenhänge wurden ihnen in einer offiziellen Unterrichtung über ihre ‘Schweigepflicht’ erläutert:
‘Bei uns ist der wissenschaftlich technische Fortschritt kein Selbstzweck, sondern ordnet sich dem großen Ziel unter, dem Wohle des Volkes zu dienen. Natürlich werden unsere Feinde versuchen, aus diesem Unfall, von dem ihr ja wißt, Profit für ihre eigennützigen Interessen zu schlagen.’ Und so weiter und so weiter. Dann zählte er eine Reihe von Namen und Jahreszahlen auf. An diesen Orten hatten sich im Laufe der letzten Jahrzehnte Unfälle und Havarien in Kernkraftwerken ereignet. In diesen sicheren und ungefährlichen Kernkraftwerken. Und jahrzehntelang war es verschwiegen worden. Natürlich war das alles nur auf Profitsucht zurückzuführen. Auf keinen Fall war die Kernenergie an sich in Frage zu stellen. Nein.1
Belial
Gert Heidenreichs Belial oder Die Stille2 ist ein moderner Faust-Roman. Anders als bei Michael Ende besteht der Teufelspakt hier jedoch nicht in der vertraglichen Verpflichtung zur Naturzerstörung; stattdessen kann die Sehnsucht nach dem Bösen als Scheitern des Projekts der Vernunft gedeutet werden.
August September, Chronist und Ich-Erzähler, zeichnet das Leben seines Schulfreundes Sylvester März nach, der als Mathematiker und Philosoph versucht, den Ursachen der drohenden Selbstvernichtung des Menschen auf die Schliche zu kommen. Er versteht das Erinnern als Gegenpol in einer Welt, in der das Vergessen und Verdrängen dominiert, und wird so zu einer modernen Sheherazade: “… das Erzählen rettet das Leben, tausendundeine Nacht lang”.3 Er versucht damit, diejenigen Verdrängungsmechanismen der Gegenwartskultur aufzubrechen und zu überwinden, die verhindern, daß die Einsicht in ökologische Gefährdungen in umweltverträglicheres Handeln umgesetzt wird.
Unvorstellbar viele Menschen mußten ebenso wie ich den Bruch im Horizont erkannt haben, Millionen wußten, daß nur ihr tätiges Erinnern noch eine Zukunft zulassen würde, in der es Menschen gäbe, die wiederum eine Chance hätten, sich zu erinnern, um die Zukunft der Nachfolgenden zu retten und zu verhindern, daß der Planet am Vergessen erstickt. 4
Der Text stellt ein dichtes Verweisungsgewebe auf Prometheus, Luzifer, Christus, Sheherazade, mythologische Mächte des Lebens und des Todes, grüne Aktivisten, die Berliner Hausbesetzerszene, Caprichos von Goya, Anspielungen auf Baudelaire, Huysmanns, u.a. dar.
Bodenloser Satz
Einen bemerkenswertes Text aus der ‘Endzeit’ der DDR stellt Volker Brauns 1988 entstandener Bodenloser Satz5 dar. Tatsächlich nur aus einem einzigen Satz bestehend, schildert der Text die Bodenlosigkeit sowohl im Sinne der Unermeßlichkeit der Folgen als auch des Mangels an Boden und Halt, die durch den Braunkohletagebau verursacht wurden. Die Kernhandlung um Klara und Karl setzt wieder einmal die Frau mit der Natur und der Erde / dem Boden und den Mann mit dem erobernden Prinzip der Technik gleich. Gebrochen wird dieses Muster jedoch durch den Ich-Erzähler, der, früher selbst zu den Arbeitern im Tagebau gehörend, nun seine frühere Heimat mit anderem Blick betrachtet.
Hinter dem Regenbogen und Tatort Umwelt
Barbara Veit hat 1990 eine Jugendgeschichte über Greenpeace6 vorgelegt, die sowohl spannend ist, als auch den emotionalen Themen der Pubertät gerecht wird: Scheidung der Eltern, Ortswechsel, erste Liebe. Auch hier wird noch einmal Bezug auf Barbara Fruth, die bayrische Schornsteinkletterin, genommen.
Zwischen 1990 und 1995 veröffentlichte dieselbe Autorin in der Reihe Tatort Umwelt7 Jugendkrimis zu Umweltverbrechen, die auf realen Ereignissen basieren. Die Mitarbeiter der (leider fiktiven) Umweltzentrale der Polizei, Carla Baran und Philip Sternberg, letzterer ein ehemaliger Greenpeace-Aktivist, sind in fünf spannenden Folgen illegalen Sondermülltransporten, Pestizidmißbrauch, Flußverschmutzung, Schlamperei in Kernkraftwerken und kriminellen Praktiken in den Auseinandersetzung um die Landrechte der Aborigines in Australien auf der Spur.
Wenzels Pilz
Bernhard Kegels wohltuend satirischer Roman um die Probleme der Gentechnologie schildert die aus der ‘Flickschusterei’ der Geningenieure erwachsenen Probleme in einer nahen Zukunft. Kegel verwendet hierbei das Klischee vom toten Wald, um das Fehlschlagen des Experiments zu veranschaulichen.
Unter einem wolkenlosen Himmel sah man einen sterbenden Wald mit zahllosen großen und kleinen Fliegenpilzen. Viele der Bäume hatten einen großen Teil ihrer Nadeln verloren. Der Rest war bräunlich verfärbt, sah aus wie vertrocknet. Von manchen standen nur noch die kahlen Stammgerippe. Unter den absterbenden Bäumen sprossen überall tiefrote, weißgesprenkelte Pilzkörper, Hunderte von Winzlingen, einige Riesen, ein Baumfriedhof von merkwürdig fröhlichem Aussehen. (…) Das intensive Rot der zahllosen Fliegenpilzhüte vermittelte eine Art gespenstischer Heiterkeit. Es wäre wahrscheinlich niemandem aufgefallen, wenn unter den Hüten der zum Teil riesigen Fliegenpilze kleine Trolle herumspaziert oder zwischen den Pilzen und bizarren Baumgerippen weiße Einhörner aufgetaucht wären.8
Palmers Krieg
Der Thriller Palmers Krieg9 von Dirk C. Fleck erzählt von der Entführung eines Supertankers, der nach New York gesteuert wird und dort sein Öl abzulassen droht, wenn dem Entführer nicht vier Tage Sendezeit zur Verfügung gestellt werden, die der Club of Rome und andere Umweltorganisationen gestalten sollen. An diesen Abenden soll, so die Forderung des Entführers, kein anderes Fernsehprogramm ausgestrahlt werden. Dieser Roman über engagierten Öko-Terrorismus greift thematisch in die frühen achtziger Jahre, indem Fleck offensichtlich das Informationsdefizit in puncto Umwelt als Ursache für das geringe Umdenken diagnostiziert.
Der Planet schlägt zurück
Eine Serie aneinandergereihter Katastrophenmeldungen bildet den Text Der Planet schlägt zurück von Anton-Andreas Guha, der offensichtlich gleichfalls noch ein Informationsdefizit diagnostizierte.
GO! Die Ökodiktatur
Flecks nächster Roman GO! Die Ökodiktatur10 erzählt von einer Bundesrepublik nach der ökologischen Revolution. Geld und Presse sind abgeschafft, der ‘Ökologische Rat’ setzt die ökologischen Bestimmungen radikal durch. Die Grundgesetze beinhalten Reiseverbot, Bauverbot, Geburtenkontrolle (nur eine Entbindung für Frauen zwischen 18 und 35), vegetarische Ernährung, Verwendung alternativer Energien und den Schutz von Pflanzen und Tieren. Die Bevölkerung soll zum ökologischen Denken ‘umerzogen’ werden. Die Regierungsangehörigen haben mit ihrer ‘Goldcard’ natürlich Reisefreiheit. Autofahren kommt einem Schwerstverbrechen gleich.
Überall in Deutschland sind ‘Meditationskommunen’ eingerichtet, in denen die Grundgesetze nicht gelten, damit die Angehörigen der Gemeinschaften frei von äußerem Druck nach neuen Formen des Zusammenlebens von Mensch und Tier suchen können. Von diesen ‘ökotopischen’ ‘grünen Inseln’ soll dann die spirituelle Erneuerung ausgehen, der neue Naturumgang für die kommenden Generationen vorbereitet werden. Gerne orientieren sich die Mitglieder der Meditationskommunen bei dieser Suche nach einem naturnahen Leben an den Überlieferungen und Lebensformen indigener Völker (der ersten Welt!), wie zum Beispiel der Indianer Nordamerikas, die zu Entwicklungshelfern für den geistigen Neuaufbau stilisiert werden.
Auch in den ‘Stadtlagern’ gelten die Grundgesetze nicht. Die großen Städte wurden nach der ökologischen Revolution evakuiert und abgeriegelt, da in ihnen die Lebensbedingungen zu schlecht geworden waren. Nun dienen sie als anarchistische Quasi-KZs für Schwerstverbrecher (= Umweltsünder) und AIDS-Kranke. Die Schilderungen der Lebensbedingungen in den Stadtlagern bilden eine Karrikatur heutigen Alltagslebens: im Fernsehen läuft eine 24-Stunden-Schleife aus Talkshow und Werbung, auf den Straßen stehen Autos im Stau, samstags abends sogar mit Beleuchtung.11
Der Zustand der Umwelt ist mehr als bedenklich, zu gravierend waren die im 20. Jahrhundert verursachten Schäden: Renaturierungsingenieure sind sisyphosgleich damit beschäftigt, Landschaften zu begrünen und verseuchte Böden auszutauschen. Die Ostsee und der Wald sind tot, der Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des Treibhauseffektes bedroht Hamburg, Europa wird regelmäßig durch Orkane verwüstet. Die erste Welt, die sich zu den GO-Staaten zusammengeschlossen hat, schottet sich gegen die Flüchtlingsströme aus der ehemaligen Dritten Welt ab. Die Armee stattet ihre Soldaten mit Mikrochips aus, die diese auf Signal zu völlig entmenschten Befehlsempfängern machen, die gegen kleinste Vergehen mit derselben Brutalität vorgehen wie gegen Schwerstverbrechen.
Beachtenswert scheint mir, daß – abgesehen von den Journalisten Lieckfeld, Wittchow und Fleck – kein Autor die umweltzerstörenden Folgen des privaten motorisierten Individualverkehrs thematisiert, was jedoch parallel zur öffentlichen Umweltdebatte geschieht: der Deutschen ‘heilige Kuh’, das “Blechschwein” (Lieckfeld / Wittchow) bleibt größtenteils unhinterfragt.
Klint
Der Journalist Horst Stern hat 1993 einen Roman über die seelischen Folgen der Naturzerstörung vorgelegt12. Sein Protagonist Klint, ein deutscher Journalist, wurde 1986 tot in einer Karsthöhle bei Triest gefunden. Der Erzähler zeichnet nun anhand einiger aufgefundener Tagebucheinträge Klints Weg in den selbstgewählten Tod nach. Klint fungiert als Seismograph für die Zerstörung der Natur, er empfindet den Menschen als “symbiotische(n) Teil der Natur”, als “Geist ihrer Materie, der unausweichlich krank werden muß, wenn sie krank wird”.13 Der Zustand der Welt findet seine Entsprechung in Klints fortschreitender Schizophrenie. Er nimmt die Atomisierung der Welt optisch wahr, vor seinem Blick zerfällt die Landschaft in disparate Elemente, Details, die sich nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen lassen. Er erkennt in der “Punktförmigkeit” seines
Sehens eine Grundbefindlichkeit des westlichen Menschen (…): nicht nur im Sehen zerlegt er sich die Welt, er zerdachte sie auch, indem sein Denken, genau wie sein Sehen, vom Gehirn her unter Verlust des Ganzen in einem immer schmaler, spitzer werdenden Sektor stets auf den Punkt kam, während sich die Welt zu beiden Seiten dieses Denkkeils bis hin zu ihrer Auflösung in Unschärfe verlor. 14
Die Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur – wie das Denken als spezifische Form der Rationalität und Weltwahrnehmung den Naturumgang bestimmt, was wiederum Auswirkungen auf die seelische Befindlichkeit des Menschen in der Welt hat, – kommt in Sterns Roman deutlich zum Ausdruck. Klint reist nach Arkadien, welches seit der Antike den paradiesische Ort auf Erden par excellence symbolisiert. Doch auch Arkadien ist zerstört: Die Zentauren entpuppen sich als genmanipulierte Chimären, die Landschaft wird mit EG-Mitteln in einen großen Freizeitpark umgebaut und künstlich verschönert. Nach weiterem Fortschreiten von Klints Schizophrenie entschließt dieser sich am Ende des Tschernobyljahres 1986, japanischen Zen-Mönchen gleich den Strahlentod im Lotussitz im Innern der Erde, unweit einer seismographischen Apparatur, zu erwarten.
Klaus Modick, der Autor von Moos, stellt in einer Rezension über Klint heraus, daß Horst Stern im Gegensatz zu den “stilsicheren Autoren” der deutschen Gegenwartsliteratur, die nichts als leere “Ästhetizismen aus Ratlosigkeit und Langeweile” produzierten, durchaus etwas zu sagen habe. Und dies sei
vielleicht das Wichtigste, was in der gegenwärtigen Situation einer globalen, ökologischen Apokalypse von der Literatur noch zu sagen oder zumindest noch zu fragen ist. Wie ist das Verhältnis von kranker Natur zur kranken Gesellschaft? Wie hat sich Sprache und Literatur innerhalb dieses Verhältnisses zu organisieren, um nicht infiziert zu werden, sondern poetisch widerstandsfähig zu bleiben?15
Klint wird im Kapitel Das zerstörte Arkadien und die Zerstörung der Seele ausführlich besprochen.
Der Mann von IDEA
In Der Mann von IDEA16 schildert Karl-Heinz Tuschel die Gegend um Berlin nach der Klimakatastrophe, dem “overturn”, nach welchem sich die Weltbevölkerung auf ein Fünftel reduziert hat. Seit dem overturn gibt es drei Tabus: Kohlenstoffverbrennung, Funk und unzyklische Technologie. Die Verkehrswege zwischen den Städten sind unterbrochen, die Bauern im Umland versuchen, UV-resistente Pflanzen zu kultivieren, um die Stadtbewohner mit Lebensmitteln versorgen zu können, und haben sich mittelalterlich organisiert. Ross Bernard, der Mann von IDEA, versucht nun, die einzelnen Regionen wieder miteinander zu vernetzen. Bei seinen Abenteuern helfen ihm seine telepathischen Fähigkeiten und seine phänomenale Naturkenntnis.
Krabat II
Bereits 1976 hatte der sorbische Autor Jurij Brzan in einem Roman über die Gefahren der Gentechnologie auf den Stoff der alten Krabat-Sage zurückgegriffen. In Krabat oder die Bewahrung der Welt 17 knüpft er an den ersten Teil an und stellt das Bemühen um eine umweltverträgliche Zukunft noch deutlicher in den Mittelpunkt. In vielfach verschlungenen Erzählsträngen berichtet er von dem Versuch der Protagonistin, auf dem geerbten Stück Land wieder zur vorindustriellen Produktionsweise zurückzukehren, um dadurch dem Wahnsinn der Welt ein wenig praktisch gelebte Vernunft und Hoffnung entgegenzusetzen. Eine konkrete Utopie als trotziges ‘trotzdem’ in einer Welt, in der es eigentlich schon 5 nach 12 ist. “Wenn keiner mehr da ist, der sagt, es ist noch nicht zu spät, dann ist es wirklich zu spät.”18 Die alten Klassenfeinde, Wolf Reissenberg und Krabat, knüpfen widerwillig ein Bündnis, da eine Rettung nur mit vereinten Kräften möglich scheint.
Brent Spar, Mururoa und Ken Saro-Wiwa
Der Sommer 1995 war neben den weltweiten Protesten gegen die französischen Atomtests auf Mururoa von der Auseinandersetzung um die Versenkung der Ölplattform ‘Brent Spar’ in der Nordsee durch die britische Shell geprägt, in deren Verlauf Shell durch Verbraucherproteste und Boykott gezwungen war, nach Alternativlösungen der Entsorgung der Ölplattform zu suchen. Im November wurde der nigerianische Schriftsteller Ken Saro-Wiwa trotz internationaler Proteste hingerichtet. Sein Engagement für das Volk der Ogoni hing mit den durch die Shell verursachten Umweltsünden zusammen:
Der Vorwurf: Shell sei in Nigerias Erdölregion für eine Umweltkatastrophe riesigen Ausmaßes verantwortlich, für die rücksichtslose Ausbeutung der Lagerstätten im nigerianischen Ogoni-Gebiet bei gleichzeitiger Verelendung der Bevölkerung, für die Kumpanei mit den dortigen Militärmachthabern und dadurch indirekt zumindest moralisch mitschuldig an der trotz weltweiter Proteste erfolgten Hinrichtung des nigerianischen Menschenrechtlers und Schriftstellers Ken Saro-Wiwa. Besonders peinlich wurde der Fall, als die Londoner Shell-Zentrale des Konzerns versuchte, gegen das letzte Buch des Menschenrechtlers vorzugehen. Titel: ‘Flammen der Hölle’. Untertitel: ‘Nigeria und Shell. Der schmutzige Krieg gegen die Ogoni’.19
Phantastik in Jugendbüchern zur Umwelt
Nach den (von Michael Endes Wunschpunsch abgesehen) größtenteils einer realistischen Darstellungsweise verpflichteten Kinder- und Jugendbüchern zu Umweltthemen erschienen 1995, nachdem der Durchbruch der Phantastik im Zusammenhang mit der allgemeinen ‘Mythenrenaissance’ (Sabine Wilke) in der ‘erwachsenen’ Umweltliteratur bereits in den Achtzigern erfolgt war, gleich zwei Erzählungen, in denen spielerisch mit Elementen der Phantastik gearbeitet wird. In Die Rache der Raben von Frederik Hetmann und Harald Tondern geht es um ein Bauprojekt im Naherholungsgebiet, das verhindert werden kann, weil ein Junge plötzlich die Sprache der Raben versteht. In Die grüne Hexe ist wieder einmal von einem Höllenkontrakt, der alle Vertragspartner zu einem größtmöglichen Einsatz von Pestiziden und Chemikalien verpflichten soll, die Rede, gegen den sich die ‘grüne Hexe’, Flora Aurora Rosenbloom, aufzulehnen versucht. Doch die Hölle hat ihre Probleme mit dem irdischen Widerstand gegen ihre Pläne:
Die Entwicklung in Europa ist alarmierend. (…) Die Absatzprognosen bis zum Jahresende sind katastrophal. Vor allem auf dem Gebiet der Kunstdünger und Pestizide. Der Verkauf von giftigen Farbstoffen, Sprays und Duftstoffen läßt ebenfalls zu wünschen übrig. Die Zahl der Umweltsünder nimmt ab. Die Einleitung von Schadstoffen in Flüsse stagniert. Müllentsorgungen werden immer besser organisiert. Es gibt Fälle von schwerer Sabotage an unserem Umweltzerstörungsprogramm: Die Wetterhexe Azora zum Beispiel hat heimlich am Ozonloch über Neuseeland geflickt, und der Zauberer Katalexis arbeitet aktiv bei Greenpeace mit. Er hat einem Schiff, das Dünnsäure verklappen wollte, Killeralgen um die Schiffsschraube gehext.20
Schmunzelnd ins nächste Jahrtausend
In der Satire Arche Nova. Kleine Chronik des dritten Jahrtausends stellt Wolfgang Zöllner im fiktiven Rückblick das kommende Jahrtausend als konsequente Fortschreibung gegenwärtiger Tendenzen dar und beschreibt eine Welt, in der Medienerfolg zu den wichtigsten Parametern gehört, dessen Priorität sich reziprok proportional zur Intelligenz der Bevölkerung verhält. Desweiteren ist die globale Erwärmung eingetreten, vor der der moderne Mensch aus unerfindlichen Gründen Angst gehabt zu haben schien, und Autos sind durch fliegende Teppiche ersetzt worden.
2. Januar 2357: Laut jüngsten Berechnungen kreuzt im Februar 2357 ein Meteorit die Bahn der Erde. Der Reichskanzler versichert, er habe alles im Griff. Untersuchungsergebnissen verschiedener Umweltschutzorganisationen zufolge ist der massenhafte Einsatz fliegender Teppiche ein Auslöser der drohenden Meteorkollision. 12. Februar 2357: Spitzensportler aus aller Welt bekennen in einer Gala, übertragen aus der Frankfurter Festhalle: Wir sind gegen den Meteor! 17. Februar: Der Meteor landet, kaum begrenzt, im Pazifik. Die Anzahl der Toten liegt um etwa 300 Millionen unter den amtlichen Vorausschätzungen. Satellitenaufnahmen begeistern die Techniker. (…) 2. März 2360: Nach Prof. Dr. Müller-Thorwaldson ist die sogenannte Meteoritenkatastrophe in Wahrheit ein Glück für die gesamte Erde. Die Umlaufbahn um die Sonne ist etwas vergrößert, dadurch die Intensität der Sonneneinstrahlung geringer. Hätten die Menschen nicht zuvor durch die sogenannte Umweltverschmutzung ihren Globus aufgeheizt, wäre alles Leben auf der Erde bedroht. So aber wird sich wieder das natürliche Gleichgewicht einstellen, das es – mit Ausnahme der letzten zwei oder drei Jahrhunderte – schon immer auf der Erde gegeben hat.21
Auch an das Bild des Waldsterbens wird ironisch – analog zum Automarkensterben bei Lieckfeld und Wittchow – in den Bildern des Brücken- und Fernsehturmsterbens angeknüpft:
17. August 2344: Beim Versuch, den Himbeerstrauch gentechnisch so zu verändern, daß seine Beeren von Würmern aller Art gemieden werden, konstruiert Bernhard Vogel die B-Ton(r)-Beerenpflanze. Sie ist in der Lage, Kalkstein zu zerlegen und dabei anfallenden Kohlenstoff ebenso wie Sauerstoff für das eigene Wachstum umzusetzen. Beste Wachstumsbedingungen bietet unter anderem Beton in jeder Form, worauf wohl auch der eigentümliche Name der Pflanze basiert. 17. Februar 2345: Die Stadt Köln sperrt zwei Brücken über den Rhein. Arbeiter hatten zufällig festgestellt, daß in den Hohlräumen des Bauwerks der B-Ton(r)-Beerenstrauch schon erhebliche Schäden angerichtet hatte. 25. August 2345: Mit dem Einsturz der Rheinbrücke bei Remagen wird ein weltweites Brückensterben eingeleitet, das von Naturfreunden in der ganzen Welt allgemein begrüßt wird. Renaissance des Fährverkehrs. 25. September 2345: Mit dem Einsturz des Fernsehturms von Toronto beginnt ein weltweites Fernsehturmsterben. Die damit verbundenen Störungen im terrestrischen Fernseh- und Telefonverkehr führen zu Protesten und Aufruhr, die mit der öffentlichen Verbrennung der Regierung von Brandenburg ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten.22
Somit markiert dieser Text in doppelter Hinsicht das Ende der Umweltliteratur in diesem Jahrtausend.
5 Braun, Volker: Bodenloser Satz, Frankfurt 1990. Vgl. auch: Elsner Hunt, Irmgard: Chaos in der Endphase. Ökoliteratur von Volker Braun und Günter Grass, in: Literatur und Ökologie, a.a.O., S. 243-255
7 Veit, Barbara: Tatort Umwelt: Der Giftmafia auf der Spur (Originaltitel: Die italienische Krankheit), Ravensburg 1990; dies.: Tatort Umwelt: Gefährliches Strandgut, Ravensburg 1990; dies.: Tatort Umwelt: Fluß in Gefahr, Ravensburg 1991; dies.: Tatort Umwelt: Tödliche Ladung, Ravensburg 1994; dies.: Tatort Umwelt: Gift im Busch, Ravensburg 1995
11 “In der Turmstraße entdeckte er einen dieser Staus, wie sie an mehreren Stellen der Stadt aufgebaut waren. Um die noch relativ intakten Autos vor Vandalismus zu schützen, hatte man sie an markanten Kreuzungen einfach zusammengeschoben. Dieser hier war hundert Meter lang. Staus wurden rund um die Uhr bewacht, die Batterien der Fahrzeuge regelmäßig aufgeladen. Die Menschen benutzten sie als Abenteuerspielplatz. Wer Lust hatte, setzte sich in einen Wagen seiner Wahl, hörte Musikkassetten, die in den Handschuhfächern lagen, oder hupte einfach fröhlich drauflos. (…) Am Wochenende, so hatte er sich sagen lassen, war im Stau kein Platz mehr zu / kriegen. Völlig aussichtslos sollte es am Samstag sein, wenn die Scheinwerfer eingeschaltet werden durften. Bis in den frühen Morgen badeten dann die düsteren Straßen im Licht, erzitterten die bröckelnden Fassaden unter dem Rhythmus der Musik, die sich aus den Blechkisten ins Freie ergossen.” (Fleck, GO, a.a.O., S. 258f.)
12 Stern, Horst: Klint. Stationen einer Verwirrung, München 1993. Vgl. auch: Fritsch, Andreas: Vergils ‘Arkadien’-Motiv in Horst Sterns ‘Klint’, in: Unerledigte Einsichten. Der Journalist und Schriftsteller Horst Stern, hrsg. v. Ludwig Fischer, Hamburg 1997, S. 257-266; Modick, Klaus: Zustand des Grimms und der Rache. Horst Stern schildert die Krise des fiktiven Journalisten Klint als Ausdruck globaler Agonie, in: Süddeutsche Zeitung, 26.5.1993, S. 15; Mohr, Peter: Wenn es im Kopf spukt. Horst Sterns Roman über einen Sonderling: ‘Klint’, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30.4.1993
16 Tuschel, Karl-Heinz: Der Mann von IDEA. Berlin: 33 Jahre nach der Klimakatastrophe, Schkeuditz 1995
17 Brzan, Jurij: Krabat oder die Bewahrung der Welt, Berlin 1995, (im folgenden zitiert als Krabat II.)
19 Liedtke, Rüdiger: Wem gehört die Republik? Die Konzerne und ihre Verflechtungen. Namen, Zahlen, Fakten ‘99, Frankfurt/M. 1998, S. 174f.