Moos 1

Pflanzenmetamorphosen und die ‘Metamorphose der Pflanzen’ – Klaus Modick: Moos. Die nachgelassenen Blätter des Botanikers Lukas Ohlburg

Man könne sich die Funktionen und Strukturen des Erinnerns,

seine Mechanismen, viel besser klar machen

durch die Lektüre gewisser Romane

Die äußere Handlung der Novelle Moos ist schnell und einfach erzählt: Ein alternder Biologieprofessor zieht sich in das Landhaus seiner Familie zurück und stirbt. Der Rest ist Erinnerung, Sinnieren, Traum, Reflexion – Selbstbetrachtung und Naturbetrachtung. Lukas Ohlburg versucht, eine Kritik der wissenschaftlichen Terminologie zu schreiben, da letztere seines Erachtens der ästhetischen und sinnlichen Wirklichkeit der Natur nicht gerecht wird. Im Laufe dieses Prozesses nähert er sich der Natur, den Pflanzen und auch seiner eigenen Kindheit und Jugend immer weiter an, bis er eines Tages stirbt, verwachsen mit dem Moos, die Lebensgrundlage des Mooses bildend, wieder eingegangen in den Kreislauf der Natur.

Kreisläufe der Erinnerung

Ohlburgs Reflexionen bestehen hauptsächlich aus Erinnerungen. Die Darstellung der Gegenwart dient dabei als Ausgangspunkt, Aufhänger oder ‘Einlaßstelle’ für Erinnerung, deren Schilderung den größten Anteil an der Novelle ausmacht.

Der Gang durch die Erinnerung, der durch Erinnerungsfiguren des kulturellen, kommunikativen sowie individuellen Gedächtnisses Ohlburgs evoziert wird, ist dabei als ‘Gang durch ein Museum’ vorzustellen, als Rundgang, der den Betrachter an den Ausgangspunkt zurückführt, jedoch um ein Erlebnis und vielleicht auch um bestimmte Erkenntnisse und Erfahrungen reicher. Die Erinnerungsfiguren dienen also als ‘Bilder einer Ausstellung’, die dem Leser jene ‘gemeinsam bewohnten Geschichten’ anbieten, ohne ihn jedoch auf eine bestimmte Lesart zu verpflichten.

Die stark verwobenen Erinnerungen Ohlburgs lassen sich thematisch zu drei Strängen zusammenfassen, die einander jedoch in vielerlei Hinsicht entsprechen, so daß es scheint, als erzählten sie alle auf ihre jeweils eigene Weise die Geschichte einer ‘Pflanzenmetamorphose’. Der erste ‘Erinnerungskreislauf’ thematisiert die Wissenschaftsgeschichte der Biologie und Evolutionslehre (die Metamorphose der Pflanzen), der zweite mythische Pflanzenmetamorphosen und der dritte schließlich die biographische Erinnerung Ohlburgs, die auch als eine konkrete Pflanzenmetamorphose, nämlich als Ohlburgs Weg zur Verschmelzung mit dem Moos zur ‘reinen Identität’ gelesen werden kann:

Ich habe mich ins Moos verliebt, und da ich spüre, wie diese Liebe erwidert wird, sehne ich den Moment herbei, ohne ihn künstlich beschleunigen zu wollen, da meine wachsende Fähigkeit, Metamorphosen einzugehen, übergehen wird in die reine, nicht mehr deutungsbedürftige Identität.1

In diesem Zusammenhang geschieht eine Thematisierung des Erinnerns, dessen Strukturen sich möglicherweise auch in Romanen studieren ließen, das dann mit Ohlburgs Wissenschaftskritik in Verbindung gebracht wird:

In einem meiner letzten Seminare mit Studenten, die ich zum Teil hoch schätzte, und Franz sagte das wie fassungslos, kopfschüttelnd, es ging um Theorien des Gedächtnisses, wurde tatsächlich behauptet, man könne sich die Funktionen und Strukturen des Erinnerns, seine Mechanismen, viel besser klar machen durch die Lektüre gewisser Romane als durch psychologische oder psychoanalytische Theorie. Stell dir das vor, Lukas. Stell dir vor, in der Botanik steht einer auf und sagt, man könne über die Flora des Ammerlands bessere Beobachtungen und Aufschlüsse gewinnen, wenn man statt eines Mikroskops irgendein verschwärmtes Naturgedicht über die Veilchen im Frühjahr oder was weiß ich heranzieht. (…) Mit traumwandlerischer Sicherheit hatte er eine Saite angerissen, die in mir seit Monaten in immer stärkere Schwingungen geraten war.2

Die Bewegung der Erzählung und der Erinnerung gleichen einer sich nach oben windenden Spirale: zweidimensional (von oben oder unten) betrachtet geschieht immer nur derselbe Kreislauf, die ewige Wiederkehr des immer Gleichen – zieht man jedoch auch die dritte Dimension in Betracht, erkennt man einen Qualitätszuwachs, der jeden durchlaufenen Kreis von den anderen abgrenzt und individuell macht. Fiktionsintern nennt Ohlburg diese Figur einen “Pseudozyklus”, in dem die Bewegung “modifiziert und um eine Qualitätsstufe höher (…) an ihren Ausgangspunkt”3 zurückkehrt.

Der Kreislauf ist als die eigentlich strukturierende Denkfigur zu verstehen, das Bild der Spirale soll bildhaft darstellen, daß mit dem reflektierenden Durchlaufen der Erinnerung immer auch ein Qualitätszuwachs verbunden ist.

Das Leben braucht ständig Rückgriffe, verweigert sich aber dem Rückschritt, auch wenn es ihn häufig simuliert. Sowenig die Regression des Mooses ein wirklicher Rückschritt ist, sowenig wird der Greis, der kindisch denkt, wieder zum Kind, sowenig wird der Wissenschaftler, über dessen Denken Bilder wachsen, zum Maler oder, wenn seine Begriffe von einer Art Poesie angegriffen werden, zum Dichter.4

Neben dem Verhältnis des Alters zur Kindheit und dem Verhältnis der Wissenschaft zur Poesie bzw. Bildhaftigkeit geht es in dieser programmatisch aufzufassenden Textstelle um jene Gedankenfigur des Pseudozyklus. Dabei wird zwischen Rückgriff und Rückschritt unterschieden, zwischen Reflexion und Regression. Bezüglich der Moose notiert Ohlburg, daß ihr “sexuelles Verhalten”, das sich ausschließlich im Wasser abspielt, ihre Herkunft von den Algen reflektiert:

So reflektiert das Moos uralte Tendenzen seiner Vorfahren. Aber wirkliche Regressionen sind der Evolution unbekannt; die Regression des Mooses ist eine simulierte, die sein Überleben gesichert hat.5

Diese Differenzierung zwischen Reflexion und Regression präsentiert Erinnerung als reflektierenden Nachvollzug, als Gedankenbewegung, die die Möglichkeit offeriert, aus Positivem Denkanstöße zu übernehmen und aus Fehlentwicklungen als warnenden und mahnenden ‘Gedenkstätten’ zu lernen. Ohlburg vergleicht diese Gedankenbewegung mit den Armbewegungen beim Schwimmen: “Der Fluß der Gedanken paßt sich dabei den Körperbewegungen an. Man holt weit aus, um dann gleichsam wieder zu sich zurückzukehren.”6

Jenes Grundmuster, nach dem jeder Standort als Ergebnis des reflektierenden Nachvollzugs der vorhergehenden verstanden werden kann, ist auch ein Grundgedanke der frühromantischen Naturphilosophie.7

In genau diesem Kontext läßt sich auch Goethes Metamorphose der Pflanzen verorten, in der man eine vergleichbare Bewegungsstruktur beschrieben findet, die er die “Spiraltendenz der Vegetation” nennt:

… eine Spiraltendenz, wodurch, in Verbindung mit dem vertikalen Streben, aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Gesetz der Metamorphose vollbracht wird. Die zwei Haupttendenzen also oder, wenn man so will, die beiden lebendigen Systeme, wodurch das Pflanzenleben sich wachsend vollendet, sind das Vertikalsystem und das Spiralsystem; keins kann von dem anderen abgesondert gedacht werden, weil eins durch das andere nur lebendig wirkt.8

Verwoben mit dem Leitmotiv der Pflanzenmetamorphose als Motiv der Verwandlung von Menschen in Pflanzen und der Entstehung von Menschen aus Pflanzen, die in den Anspielungen an Goethes Metamorphose der Pflanzen quasi anagrammatisch zitiert wird, finden sich in dieser Novelle also ‘Kreisläufe allenthalben’, ‘Kreisläufe der Erinnerung’ zumal: der wissenschaftsgeschichtlichen der Biologie (mit den Erinnerungsfiguren Goethe, Harvey, Darwin, Haeckel und der nationalsozialistischen Biologie), mythischen (Pflanzenmetamorphosen) und biographischen (individuell bedeutsame Ereignisse in Ohlburgs Leben) Erinnerung.

Mit dem Durchschreiten jedes dieser Kreisläufe werden bestimmte Assoziationsräume in Resonanz versetzt, die ich im Folgenden erläutern werde. Dabei werde ich die Erinnerungsfiguren an den einzelnen Stationen vorstellen, ihre Verankerung im Text nachweisen und ihre Resonanzräume beschreiben.

1 Modick, Klaus: Moos. Die nachgelassenen Blätter des Botanikers Lukas Ohlburg, Zürich 1984, im folgenden zitiert als ‘Moos’, S. 103

2 Moos, S. 79f.

3 Moos, S. 20

4 Moos, S. 90

5 Moos, S. 90

6 Moos, S. 18

7 “Diese Identifizierung der Natur und des menschlichen Bewußtseins mit einer Potenzreihe, in der jedes Glied eine Reflexion über die eigene frühere Wesens- und Handlungsart darstellt, ist der (sic!) Rückgrat des frühromantischen Glaubens an eine Identität von Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Endlichkeit und Unendlichkeit, Selbstbeobachtung und Naturbeobachtung, Wissen und Machen.” (Neubauer, J.: Zwischen Natur und mathematischer Abstraktion: der Potenzbegriff in der Frühromantik, in: Romantik in Deutschland, hrsg. v. R. Brinkmann, Stuttgart 1978, S. 182; zit. nach: Romantik-Handbuch, hrsg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 1994, S. 612f.) (Hervorhebung von mir, S.J.).

8 Goethe, Johann Wolfgang von: Spiraltendenz der Vegetation, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Erich Trunz (im folgenden zit. als ‘HA’), Bd. 13, S. 135

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